Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
nicht.
«Die sind hier schon seit Jahrzehnten und können kein Wort Deutsch, also mich nervt das!», versucht sie einen letzten Anlauf. Ich atme tief durch, und dann widmen wir uns endlich der Übergabe.
Die Lunge von Herrn Karamoglu scheint sich langsam zu erholen, deshalb soll er noch einmal für zwölf Stunden auf dem Bauch gelagert werden. Danach wird entschieden, wie es weitergeht. Damit kann ich etwas anfangen. Was die Opportunistin hingegen mit dem «Kopftuchproblem» macht, ist mir egal. Ich bin der Ansicht, dass jeder Mensch, egal welcher Herkunft, ein Anrecht auf gute Pflege und Medizin hat, und damit ist das Thema für mich erledigt.
Als ich nach den Nachtdiensten nach einer freien Woche zur Spätschicht komme, betreue ich Frau Dietrich, die Frau mit dem Herzinfarkt, die mittlerweile nicht mehr beatmet ist. Sie liegt in einem Zweibettzimmer, und der Bettplatz ihr gegenüber ist leer – dort hat in der Nacht zuvor ein Mann gelegen, der fast zwei Stunden lang reanimiert worden war und schließlich trotz aller Bemühungen starb. Frau Dietrich ist die ganze Nacht nicht zur Ruhe gekommen, denn leider gab es keinen anderen freien Bettplatz, auf den man sie hätte verlegen können, um ihr das ganze Drama zu ersparen. Zwar hatte sie abends eine Schlaftablette bekommen, aber in einem solchen Tumult schläft wohl kein Mensch ruhig.
Der Putzteufel half Frau Dietrich morgens beim Aufstehen und setzte sie danach für fast eine Stunde in den Sessel: «Die musste doch mal raus!»
Dementsprechend ist Frau Dietrich am frühen Nachmittag unfassbar müde und bricht fast in Tränen aus, als ich sie frage, ob sie nochmal auf der Bettkante sitzen möchte.
«Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, und dann dieser arme Mann da, das nimmt einen ja auch mit», sagt sie leise.
Es tut mir leid, dass Frau Dietrich so etwas miterleben musste, wo sie doch selber dem Tod gerade von der Schippe gesprungen ist. Ich schlage ihr vor, sich am Nachmittag zu erholen. Wenn sie möchte, kann sie abends auf der Bettkante Abendbrot essen. Ungestört von Neuaufnahmen und Besuch schläft sie dann zwei Stunden tief und fest und wacht gegen 18 Uhr erstaunt auf.
«Oh», lächelt sie, «das hatte ich wohl nötig.»
Fast ohne meine Hilfe setzt sie sich auf die Bettkante, trinkt eine Flasche Malzbier, isst ein Schälchen Gemüsesuppe. Als ich noch eine Birne anbiete, strahlt sie und isst auch noch die Birne auf. Sie scheint sehr zufrieden, und als ich mich von ihr verabschiede, winkt sie und sagt: «Bis morgen, mein Engel.»
Ich muss grinsen und schwebe nach Hause.
Am nächsten Tag erwartet mich ein Donnerwetter vom Putzteufel. Sie fängt mich kurz vor dem Zimmer von Frau Dietrich ab: «Warum hast du denn Frau Dietrich gestern nicht motiviert, im Sessel zu sitzen? Die muss doch mal raus!»
Der gleiche Satz wie gestern! Ich erkläre ihr, wie es Frau Dietrich am gestrigen Nachmittag ging und dass ich es für sinnvoll erachtet hätte, ihr die nötige Ruhe zu gönnen.
«Ja, aber die muss doch auf die Beine kommen, du kannst die doch nicht einfach liegen lassen!», redet sich der Putzteufel in Fahrt und leert nebenbei den Papierkorb aus, in dem zwei Gummihandschuhe und eine Spritze liegen.
«Ich habe Frau Dietrich nicht ‹liegen gelassen›. Sie hat abends auf der Bettkante sitzend gegessen und von dem ruhigen Nachmittag durchaus profitiert.» Allmählich werde ich sauer.
«Ja, aber trotzdem …», nölt der Putzteufel weiter.
«Weißt du was? ‹Ja, aber› heißt ‹nein›. Und warum soll die Patientin nicht selbst entscheiden, wie viel sie sich nach einer solchen Horrornacht zumuten will?»
Voneinander genervt gehen wir beide zu Frau Dietrich.
«Ach, wie schön, dass Sie wieder da sind!», begrüßt sie mich, und das gibt dem Putzteufel den Rest.
Ich bin auf einmal verunsichert – hätte ich Frau Dietrich gestern doch in den Sessel bugsieren sollen, obwohl sie klar und deutlich zum Ausdruck gebracht hat, nicht zu wollen und zu können? Sosehr ich das Engagement des Putzteufels zu schätzen weiß, so sehr geht es mir auf den Wecker.
Es scheint zum Wesen der Superschwester dazuzugehören, sich über die individuellen Bedürfnisse und Wünsche der Patienten hinwegzusetzen und alle der Reihe nach mit Mobilisierungsstandards auf Bettkanten zu setzen, in Sessel zu hieven und Schluckversuche zu starten. Was der Putzteufel macht, ist ja nicht grundsätzlich falsch, aber sie verlangt zu viel: Frau Dietrich nach einer
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