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Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Titel: Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Grunwald
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Armen und zusammengekniffenem Mund vor ihr. Offenbar ist sie stinkwütend, weil sie merkt, dass man sich solche Informationen wohl doch nicht einfach «aus dem Netz ziehen» kann und dass Frau Anzug ihr mit ihrer bestimmten Freundlichkeit sukzessive den Wind aus den Segeln nimmt. Herr Rose steht daneben und guckt auf den Fußboden. Das aufgebrachte Gezeter seiner Tochter sowie die gründliche Zusammenfassung von Frau Anzug erinnern ihn einmal mehr daran, wie schlecht es um seine Frau bestellt ist.
    Und nun passiert das, was wir alle aus Arztserien kennen: Ein attraktiver Endvierziger betritt das Zimmer, im frisch gestärkten weißen Kittel, sein graumeliertes, volles Haar ist ordentlich gescheitelt. Er trägt Collegeschuhe in zurückhaltendem Dunkelblau, und eine blau-rot gestreifte Krawatte leuchtet unter dem hellblauen Button-down-Hemdkragen hervor. Genau so ist es, exakt genau so. Als ich diesen Mann zum ersten Mal gesehen habe, ist mir die Kinnlade heruntergeklappt; ich hätte es nie für möglich gehalten, dass Klischees derart bestätigt werden können.
    «Guten Tag, Herr Rose!», begrüßt uns der Chef mit sonorer Stimme und schüttelt Herrn Rose die Hand.
    «Aah, und die Frau Tochter, hallooo!», flötet er mit einem beispiellosen Zahnpastalächeln, und die «Frau Tochter» strahlt wie die liebe Sonne im Mai. Ich bekomme schlagartig Sodbrennen.
    Da der Chef in dieser Situation auch nichts anderes machen kann, als abermals alle Ereignisse und ihrer Konsequenzen zusammenzufassen, und trotzdem nicht untätig wirken möchte, befragt er Frau Anzug zu den Untersuchungen wie Röntgen, Computertomografie sowie nach Änderungen im Antibiotikaschema, dies zudem in einem Tonfall, der Frau Anzug aus mündlichen Examensprüfungen sattsam bekannt ist. Das befeuert die Annahme der Tochter von Frau Rose, dass Assistenzärzte nur dranbleiben, wenn man beim ersten Besuch ordentlich auf den Putz haut, bis sich der Chef mit seinem umfassenden Fachwissen gewinnbringend einklinkt. Was sie dabei leider verkennt, ist die Tatsache, dass all diese Untersuchungen schon längst durchgeführt wurden und dass sie und ihr Vater bereits mit den Ergebnissen konfrontiert worden sind – von Frau Anzug. Die Tochter klebt dessen ungeachtet an den Lippen des Chefs, nickt verständnisvoll, runzelt besorgt die Stirn, lächelt freundlich, und ich stehe daneben und kann es nicht fassen. Da muss nur der Chef kommen, zwei gepflegte Zahnreihen blitzen lassen, alles noch einmal wiederholen, was schon erörtert wurde, und erst dann endlich keimt so etwas wie Verständnis auf? Der erzählt doch nichts Neues! Der hat lediglich mehr Zeit zum Quatschen – und er ist der Chef.
    Je länger ich den Job hier mache, desto mehr ärgert mich dieses immer wiederkehrende Schema F.
    «Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben», schnarrt der Chef. Kurz begegnen sich die Blicke von Frau Anzug und mir, sie zieht – nur für mich sichtbar – genervt ihre Augenbraue hoch. Um sein Engagement zu untermauern, drückt der Chef ohne Gummihandschuhe auf dem Bauch von Frau Rose herum und spielt «Untersuchung», danach jazzt er Frau Anzug lässig ein paar Anordnungen herüber, desinfiziert sich großspurig die Hände und verabschiedet sich freundlich per Handschlag von «Frau Tochter» und dem verunsichert wirkenden Herrn Rose. Im Raum steht eine Note von Weihrauch und Myrrhe. Die Tochter ist nun milde gestimmt, und ich bin erneut erstaunt über die Tatsache, dass Menschen diese Show tatsächlich ernst nehmen und der Chef seinen Auftritt absolut ernst meint.
    Ich benötige dringend eine kurze Auszeit und melde mich schnell bei der Bohnenstange ab, der im Nachbarzimmer arbeitet, um genervt eine Zigarette zu rauchen. Wenige Minuten später kommt Frau Anzug hinterher.
    «Die hat sie ja wohl nicht mehr alle!», knurre ich. Frau Anzug fängt an zu lachen und sagt: «Die Tochter wollte die Show, und die hat sie nun bekommen. Am Zustand der Mutter ändert das rein gar nichts.»
    Wir drücken unsere Zigaretten aus. «Und dann dieser Auftritt mit den Anordnungen, das war doch pure Reviermarkierung!», rege ich mich auf. Ja, einmal richtig Beinchen heben, mehr war das eigentlich nicht. Frau Anzug schmunzelt und klopft mir beschwichtigend auf die Schulter. Sie hat recht: Wozu sich aufregen?
     
    Die meisten Angehörigen lassen sich von Chefärzten beeindrucken. Es ist ja auch ein eklatanter Unterschied, ob man in die Kirche oder zur Papstaudienz geht. Und selbst in der Klinik versetzt

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