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Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Titel: Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Grunwald
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der Glaube Berge, obgleich doch alles eigentlich auf Daten, Wissen und Können fußt: Der Chef ist nicht umsonst Chef, der Chef wird das richten, der Chef macht das schon, er ist Daten, Wissen und Können in persona. Es wird uns zudem frühzeitig beigebracht, dass man Respekt vor jedweder Sorte Chef zu haben hat, völlig egal, wie man ihn findet und was er überhaupt sagt. Das Wissen um diese antiquierten Machtspielchen ist eine der ersten Lektionen, die man als Krankenpflegeschülerin lernt, und man gewöhnt sich irgendwann daran. Man muss nur aufpassen, dass man in der Ausbildung nicht zu lange auf einer Privatstation festhängt, weil man sonst irgendwann anfängt zu glauben, dass es tatsächlich primär um die Zufriedenheit des Chefs und nicht um das Wohl der Patienten geht.
    Meine schönste Chefvisite spielt sich etwa Mitte der Neunziger auf der Normalstation ab, auf der ich vor meinem Wechsel auf die Intensivstation etwa ein Jahr lang gearbeitet habe. Dort gab es vier Zimmer für Privatpatienten, und jeden Donnerstag schritt der Chef durch sein Revier, während wir vorher wie die fleißigen Bienchen über den Flur und durch Patientenzimmer summten, damit der Chef alles so vorfindet wie gewünscht.
    In dieser Hinsicht sind Chefs durchaus eigen. Der eine will alle Röntgenbilder, der andere nur das aktuelle an den Fenstern kleben haben, der eine will vorher seinen Kaffee mit Milch, der andere danach und schwarz – und alle wollen, dass den Stationsärzten einzelne Laborwerte auf Kommando aus dem Kopf purzeln und die Krankenschwestern artig, folgsam und schweigend unaufgefordert Akten parat halten. Obwohl alle diesen Wirbel albern und überflüssig finden, weil es sich hier einmal mehr nur um einen Auftritt handelt, den die Assistenzärzte alltäglich inhaltlich wesentlich wertvoller und in doppelter Geschwindigkeit bewerkstelligen, erledigen wir diese Aufgaben – je tadelloser die Vorbereitung, umso perfekter die Show. Während also die Stationsärzte verbissen alle Patientendaten zusammenraffen, sind wir damit betraut, alle Patienten vor Ort zu behalten, denn wenn der Chef kommt, sollte niemand bei der Krankengymnastik, beim Röntgen oder gar beim Rauchen sein. Alle sollen gewaschen und gut gelaunt sein und sich auf dem besten Wege der Genesung befinden. Manch ältere Dame lässt es sich nicht nehmen, mit unserer Hilfe ein leichtes Tages-Make-up aufzulegen. Das sind Momente, in denen ich mich frage, ob ich noch Krankenschwester bin oder Kostümbildnerin.
    Dann fliegt mit grundsätzlich fünfminütiger Verspätung die Stationstür auf, und der Chef betritt in seinem hochgeschlossenen blütenweißen Kittel die Station. Seine Aura erleuchtet den düsteren Flur, und sein Antlitz spiegelt sich auf dem blitzblank gebohnerten Linoleum wieder. Sein gütiges und joviales Lächeln lässt Hoffnung für alle Kranken und Siechenden aufkeimen, das Personal steht ausgeschlafen und motiviert parat. Alle sind bereit, dem Chef zu zeigen: «Was du uns gesagt hast, haben wir getan – sieh nun, wie gut es gediehen ist!»
    An dieser Stelle möchte ich eindringlich betonen, dass es keine gute Idee ist, den Chef zu duzen. Ein Chefarzt scheint tatsächlich noch größer zu sein als ein Gott, der von den zu ihm Betenden ja durchaus geduzt wird – wer einen Chefarzt duzt, ist des Teufels und wird das deutlich zu spüren bekommen. Im Klinikalltag duzen im Einzelfall lediglich zwei Personengruppen den Chef: Kinder und Schleimer.
    Ohne großes Vorgeplänkel geht die Visite los, denn so ein Chef hat nicht viel Zeit: Er ist sich seiner Rolle bewusst und blickt ernst und mit entschiedener Miene dem Patienten in die Augen. Widerworte lässt er selbst bei ihnen nicht gelten.
    Hinter ihm reihen sich die Oberärzte auf, ebenfalls mit Würdenträgerblick, und dahinter die etwas nervös wirkenden Stationsärzte. Das Schlusslicht bin – betont lässig – ich, mit einem mächtig schweren, wackeligen Wägelchen, das bis zum Rand mit sämtlichen Patientenakten vollgepackt ist. Eigentlich müsste meine Stationsleiterin mitgehen, denn so klafft eine beachtliche hierarchische Lücke zwischen dem Stationsarzt und mir. Sie macht diesen Unfug im Gegensatz zu mir dagegen schon seit zwei Jahrzehnten mit und kennt alle Spitzfindigkeiten, weshalb sie es aus taktischen Gründen vorzieht, das Telefon in unser aller Abwesenheit zu beantworten und im Hintergrund alles wegzuarbeiten, woran der Chef sich später beim Kaffee stören könnte.
    Der Oberarzt

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