Schwesterlein, komm stirb mit mir
näher an den Tisch. Als sie den blutigen Gegenstand erblickte, den der Arzt mit einer Pinzette in die Höhe hielt, stöhnte sie leise auf.
Montag, 4. November, 10:07 Uhr
Georg Stadler lenkte den Dienstwagen auf die Autobahn ins Ruhrgebiet. Karim saß in der ‹Krümmede› ein, der JVA Bochum. Stadler hatte für elf Uhr einen Termin vereinbart. Wenn es keine unvorhergesehenen Verkehrsbehinderungen gab, würden sie pünktlich da sein.
Liz hatte bisher kaum ein Wort mit ihm gewechselt. Sie war blass und sah übernächtigt aus. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Eigentlich durfte er sie nicht weiter in die Ermittlungen einbeziehen, schon weil es gegen die Regeln verstieß. Vor allem aber weil er sie damit überforderte. Sie hatte innerhalb weniger Tage ihre Mutter und ihre beste Freundin verloren, beide waren auf unvorstellbar grausame Weise ermordet worden, und als Täter verdächtigten sie ihren tot geglaubten Bruder. Eigentlich benötigte Liz psychologische Betreuung – nicht eine weitere Konfrontation mit einem Zeugen mit ungewissem Ausgang.
Doch Stadler brauchte sie. Liz war der Schlüssel zum Täter, ohne sie würde es womöglich noch Wochen dauern, Hendrik Vermeeren aufzuspüren. Wenn sie ihn überhaupt je fassten. Vermeeren verfügte über beachtliche finanzielle Mittel und eine unglaubliche Dreistigkeit.
Stadler hatte keinen Zweifel mehr daran, dass sie nach Hendrik Vermeeren suchten. Eben hatte er den IT -Experten erreicht, der mit Hilfe eines Computerprogramms Vermeerens Jugendfoto seinem jetzigen Alter anpassen lassen sollte. Der Kollege hatte Stadler versichert, dass das Bild zwar nicht optimal, aber ausreichend sein würde – und versprochen, noch im Laufe des Vormittags ein Ergebnis zu liefern.
Stadler sah zu Liz hinüber, die mit gesenktem Kopf neben ihm saß. «Du musst das nicht machen, wenn du nicht willst.»
«Doch, ich muss», widersprach sie leise. «Er ist mein Bruder. Nur ich kann ihn stoppen.»
«Unterschätz die Polizei nicht», versuchte er zu scherzen. «Ich habe schon Mörder hinter Gitter gebracht, als du noch im Sandkasten gespielt hast.»
Zu seiner Überraschung funktionierte es. Sie lachte leise. «Ich wusste gar nicht, dass du
so
alt bist.»
«Ich habe mich wahnsinnig gut gehalten. Das bestätigen mir die Frauen immer wieder.» Er fuhr sich durch das kurz geschorene Haar.
«So wie Linda?», fragte Liz. «Wie geht es ihr übrigens?»
Die Frage warf Stadler aus dem Gleichgewicht. «Gut», sagte er knapp und biss sich auf die Lippe.
Liz schien seine Irritation nicht aufzufallen. Oder sie ließ sich nichts anmerken. «Konntet ihr schon mir ihr sprechen? Weiß sie, wer sie in den Wagen gesperrt hat?»
«Zwei Kollegen waren bei ihr im Krankenhaus. Sie hatte den Cayenne in der Einfahrt stehen sehen und das Grundstück betreten. Sie hatte sich eine Geschichte als Vorwand ausgedacht, doch sie kam nicht dazu, sie zu erzählen. Jemand schlug sie nieder und sperrte sie in einen Kellerraum ein. Sie bekam Wasser und Kekse, und gestern kam der Unbekannte zurück, fesselte sie und sperrte sie in den Kofferraum. Es gab Spuren auf dem Grundstück, die darauf hinweisen, dass der Dienstwagen mehrere Tage hinter dem Haus geparkt war.»
«Also wusste Hendrik, dass wir bei dem Vermögensverwalter waren und früher oder später das Grundstück absuchen würden. Er hat uns erwartet.»
Stadler setzte den Blinker, um einen LKW zu überholen. «Das ist reine Spekulation. Aber es könnte stimmen. Ich schätze, Rossberg hat sich mit ihm in Verbindung gesetzt. Er wollte zwar nicht in Jan Schneiders Machenschaften hineingezogen werden, aber er fühlt sich dem Sohn seines Freundes wohl noch immer verpflichtet.»
«Er ist einfach nur ein Feigling», sagte Liz verächtlich. «Denk an die Frau in seinem Haus, die wir nicht zu Gesicht bekommen sollten.»
Sie schwiegen während der nächsten zehn Kilometer.
«Hast du was mit dieser Linda?», fragte Liz unvermittelt.
Stadler unterdrückte den Drang, sie anzublaffen. «Nein», antwortete er schroff. «Wie kommst du darauf?»
«Es wirkte so.»
«Wie?», fuhr er sie an.
«Na ja, als wärt ihr mehr als Kollegen.»
Stadler beschloss, ehrlich zu sein. «Sie war interessiert, ich habe sie abgewiesen. Das war, kurz bevor sie verschwand. Birgit vermutete, dass es da einen Zusammenhang geben könnte.»
«Sie dachte, Linda könnte sich deinetwegen etwas angetan haben?» Liz schien überrascht.
«Das nun nicht gerade. Sie nahm an, dass Linda sich aus
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