Schwesterlein, komm stirb mit mir
mal wieder. Drei Jahre wegen Diebstahls und Betrugs.»
Liz atmete erleichtert auf. «Ich möchte dabei sein.»
«Das geht nicht, Liz.»
«Was, wenn er nicht mit der Polizei reden will? Dann verlieren wir wertvolle Zeit. Mit mir wird er bestimmt sprechen, schließlich wollte er mich damals schon warnen.»
«Nimm sie mit, Georg.» Wieder war es Birgit, die Liz unterstützte. «Sie ist eine Zeugin, sie muss bestätigen, dass Meshad wirklich der Mann ist, der damals den Brief schrieb, schließlich weiß nur sie, was drinstand.»
«Wer sonst sollte ihn geschrieben haben?», fragte Miguel mit hochgezogenen Augenbrauen.
«Vermeeren», antwortete Birgit trocken. «Dieser Mann ist ein Meister der Täuschung. Und seine Schwester vor sich selbst zu warnen, wäre ganz bestimmt ein Spielzug nach seinem Geschmack.»
Montag, 4. November, 8:46 Uhr
Als Liz erwachte, wusste sie zunächst nicht, wo sie war. Dann fiel es ihr wieder ein. Die sichere Wohnung, zu der Stadler sie in der Nacht gefahren hatte, nachdem sie noch lange im Vernehmungszimmer darüber diskutiert hatten, ob es möglich war, das Hendrik noch lebte.
Hendrik!
Liz drehte sich auf den Rücken und starrte an die Zimmerdecke. Ein dumpfer Schmerz pochte in ihrem Schädel. Am liebsten hätte sie sich die Decke über den Kopf gezogen, wäre wieder eingeschlafen und nie mehr aufgewacht. Doch das wäre feige gewesen. Sie wurde gebraucht. Sie musste helfen, einen gefährlichen Mörder dingfest zu machen, nicht irgendeinen Mörder – ihren eigenen Bruder. Auch wenn der Schmerz sie innerlich zerriss, wollte sie sich vor dieser Verantwortung nicht drücken.
Sie stand auf, wankte ans Fenster und warf einen Blick nach draußen. Sie wusste nicht einmal, in welchem Stadtteil sie sich befand. Ob die Wohnung überhaupt in Düsseldorf lag? Draußen gruppierte sich eine gleichförmige Siedlung von flachen mehrstöckigen Häusern um eine Rasenfläche mit Spielplatz und Bäumen. Neben der einzigen Bank stocherte ein alter Mann in schlabberiger Cordhose im Mülleimer, doch davon abgesehen wirkte die Siedlung nicht heruntergekommen, sondern langweilig und spießig. Austauschbar. Sie konnte überall zwischen Flensburg und Garmisch liegen.
Liz wandte sich ab. Auf einem Stuhl neben dem Bett stand ihre Reisetasche. Jemand musste in ihrer Wohnung gewesen sein und ihr einige Sachen eingepackt haben. Sie fand Zahnbürste und Waschzeug, zudem ein paar Kleidungsstücke, von einer Person zusammengestellt, die ihre Vorlieben nicht kannte. Nach kurzem Zögern griff sie nach ihrem Jogginganzug und zog ihn über.
In der Küche traf sie auf Ruth Kröppke, die Polizistin, die sie vor einigen Stunden an der Tür empfangen und ihr das Schlafzimmer gezeigt hatte. Jetzt erinnerte sie sich auch, dass die Wohnung in Unterbach lag, einem ruhigen Stadtteil im Düsseldorfer Süden. Kröppke saß am Tisch und wirkte, als hätte sie die ganze Nacht in dieser Position ausgeharrt. Nur die aktuelle Tageszeitung vor ihr verriet, dass sie zumindest kurz draußen gewesen sein musste.
Als Liz eintrat, blickte sie auf und lächelte. «Guten Morgen, Frau Montario. Haben Sie gut geschlafen?»
«Gibt es hier irgendwo Kaffee?», fragte Liz statt einer Antwort.
Die Polizistin erhob sich und nahm eine Tasse aus dem Schrank. Dann schob sie eine Thermoskanne in Liz’ Richtung. «Bedienen Sie sich.»
Liz nahm Platz und goss sich Kaffee ein.
Die Beamtin versuchte noch eine Weile, ein Gespräch mit ihr anzufangen. Doch als Liz nur einsilbig auf ihre Fragen antwortete, beugte sie sich wieder über die Zeitung.
Liz starrte in ihren Kaffee. Plötzlich musste sie an Lissabon denken. Es war ihre erste Reise ohne Familie gewesen, ihre erste Reise, seit Hendrik fort war. Sie war im dritten Semester, Deborah im fünften. Gemeinsam hatten sie die endlose Busfahrt in den Süden durchgestanden, mit viel Wodka und endlosem Getratsche über ihre Mitstudenten, über Zukunftspläne, über das Leben. In Lissabon hatten sie eine billige Unterkunft gefunden und sich ins Nachtleben gestürzt. Am dritten Tag waren sie von zwei jungen Männern angesprochen worden, als sie sich gerade auf den Stufen vor einem Haus niedergelassen hatten, um Pläne für den Tag zu schmieden. Es war früher Nachmittag, und sie waren kurz zuvor aufgestanden. Die Männer schlugen vor, ihnen die Stadt zu zeigen, und Deborah und Liz nahmen das Angebot dankbar an.
Zu viert zogen sie los. Als die Gassen immer enger und schäbiger wurden, blieb Deborah plötzlich
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