Schwesterlein, komm tanz mit mir
sechzigjährigen Casanova in seinem schmutzigen Unterhemd. «Boxer ist mir zuwider», hatte sie gesagt. «Ich hasse die Vorstellung, daß er einen Generalschlüssel zu meiner Wohnung hat. Einmal kam ich nach Hause und fand ihn dort vor, und er erzählte mir irgendeine erlogene Geschichte über ein undichtes Rohr in der Wand.»
«Hat jemals etwas aus der Wohnung gefehlt?» hatte Darcy gefragt.
«Nein. Den Schmuck, an dem ich arbeite, bewahre ich immer im Safe auf. Und sonst gibt es nichts, das zu stehlen sich lohnen würde. Es sind eher seine scheußlichen, schleimigen Annäherungsversuche, bei denen ich eine Gänsehaut bekomme. Ach, was soll’s! Wenn ich in der Wohnung bin, schiebe ich den Riegel vor, und außerdem ist die Miete billig. Vermutlich ist er harmlos.»
Darcy kam gleich zur Sache. «Ich mache mir Sorgen um Erin Kelley», sagte sie dem Hausmeister. «Ich war gestern abend mit ihr verabredet, und sie ist nicht erschienen. Am Telefon meldet sie sich nicht. Ich möchte in ihrer Wohnung nachsehen. Vielleicht ist ihr etwas passiert.»
Boxer zwinkerte. «Gestern war sie okay.»
«Gestern?»
Dicke Augenlider senkten sich über farblose Augen. Er befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen. Wirre Falten erschienen auf seiner Stirn. «Nein, stimmt nicht. Ich hab sie am Dienstag gesehen. Spätnachmittags. Sie kam mit irgendwelchen Lebensmitteln nach Hause.» Jetzt schlug er einen rechtschaffenen Ton an. «Ich hab ihr angeboten, sie nach oben zu tragen.»
«Das war am Dienstag nachmittag. Haben Sie sie am Dienstag abend ausgehen oder nach Hause kommen sehen?»
«Nein. Hab ich nicht. Aber wissen Sie, ich bin kein Portier. Die Mieter haben ihren eigenen Schlüssel. Und Boten melden sich über die Sprechanlage, wenn sie hereinwollen.»
Darcy nickte. Obwohl sie wußte, daß es nutzlos war, hatte sie bei Erins Wohnung geläutet, ehe sie beim Hausmeister klingelte. «Bitte, ich habe Angst, daß etwas nicht stimmt. Ich muß in ihre Wohnung. Haben Sie Ihren Generalschlüssel bei sich?»
Das verzerrte Lächeln erschien wieder. «Verstehen Sie, normalerweise lasse ich Leute nicht in Wohnungen, nur, weil sie sagen, sie wollten rein. Aber Sie habe ich mit Miss Kelley gesehen. Ich weiß, daß Sie Freundinnen sind.
Sie sind wie sie. Sie haben Klasse und sehen gut aus.»
Darcy ignorierte das Kompliment und ging auf die Treppe zu.
Treppen und Treppenabsätze waren sauber, aber unansehnlich. Die fleckigen Wände waren grau wie Schlachtschiffe, die Fliesen auf den Stufen uneben. Wenn man in Erins Wohnung kam, hatte man das Gefühl, aus einem Keller ins Tageslicht zu treten. Als Erin vor drei Jahren hier eingezogen war, hatte Darcy ihr beim Tapezieren und Anstreichen geholfen. Sie hatten einen Anhänger gemietet und waren nach Connecticut und New Jersey gefahren, um billige Gebrauchtmöbel zu erstehen.
Die Wände hatten sie strahlend weiß gestrichen. Bunte Indianerteppiche lagen auf dem zerkratzten, aber blankpolierten Parkettboden. Gerahmte Museumsplakate hingen über einer Couch, die mit leuchtendrotem Samt bezogen und mit passenden bunten Kissen bedeckt war.
Die Fenster gingen auf die Straße hinaus. Obwohl der Himmel bedeckt war, hatte man ausgezeichnetes Licht.
Unter den Fenstern lagen ordentlich aufgeräumt Erins Werkzeuge auf dem langen Arbeitstisch: Lötlampe, Handbohrer, Feilen und Zangen, Schraubzwingen und Pinzetten, Lötblock, Meßzangen, Bohrer. Darcy hatte es immer faszinierend gefunden, Erin bei der Arbeit zuzusehen und zu beobachten, wie geschickt ihre schlanken Finger mit zarten Schmuckstücken hantierten.
Neben dem Tisch stand Erins einziges extravagantes Stück, eine hohe Kommode mit mehreren Dutzend kleinen Schubladen. Ein Apothekenschrank aus dem neunzehnten Jahrhundert, dessen untere Schubladen nur Fassade waren, hinter der sich ein Safe verbarg. Ein bequemer Sessel, ein Fernsehapparat und eine gute Stereoanlage vervollständigten die gemütliche Einrichtung.
Darcys erster Eindruck erleichterte sie. Hier war nichts in Unordnung. Gus Boxer im Schlepptau, ging sie in die winzige Küche, einen kleinen, fensterlosen Raum, den sie hellgelb gestrichen und mit eingerahmten Geschirrhandtüchern dekoriert hatten.
Der schmale Flur führte ins Schlafzimmer. Das Messingbett und eine Frisierkommode waren die einzigen Möbelstücke in dem engen Raum. Das Bett war gemacht.
Nichts lag herum.
Auf dem Halter im Badezimmer hingen saubere, trockene Handtücher. Darcy öffnete den Medizinschrank. Mit geübtem
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