Schwesterlein muss sterben
nach, ja? Alles wird gut. Wenn wir …«
Merette strich ihm sanft mit der offenen Hand über die Wange. Seine Bartstoppeln kratzten. »Pssst! Ich bin froh, dass du da bist. Danke!«
Eine knappe Stunde später waren sie bei Frode im Büro. Schon nach der kühlen Begrüßung war klar, dass Merette mit ihrem Verdacht richtiggelegen hatte. Frode war beleidigt, er sah Jan-Ole als Konkurrenten und war eifersüchtig auf ihn. Und er reagierte, indem er Merette nahezu völlig außen vor ließ und sich Jan-Ole gegenüber als derjenige aufspielte, der noch eine Trumpfkarte im Ärmel hatte, die Jan-Oles Fähigkeiten weit in den Schatten rücken sollten.
Jan-Ole schien das Gehabe des Betreuers allerdings völlig kaltzulassen. Merette war sich fast sicher, dass er gar nichterst auf die Idee kam, mit dem anderen konkurrieren zu müssen.
»Also, mal eben als kleine Einstimmung«, setzte Frode an, »ich hab mir die Akte noch mal vorgenommen, wir kopieren ja immer alles schön, bevor wir irgendwas aus der Hand geben. Jedenfalls gibt es da einen Zeitraum zwischen … Moment«, er warf einen kurzen Blick auf den Spiralblock vor sich, der mit Notizen übersät war. »Hier hab ich’s. Vom 15. August letzten Jahres bis zum 1. Oktober! Da haben wir eine Lücke, die nicht geklärt ist. Vorher war er im Sundfjord in dieser Einrichtung da, ab Oktober dann hier in Bergen. Für die Zeit dazwischen gibt es keine Angaben.«
Merette hatte das Gefühl, dass ihnen gerade irgendetwas völlig aus dem Ruder lief. Im letzten August waren Julia und Marie in Frankreich gewesen! Und gestern noch hatte Jan-Ole nach einer möglichen Verbindung zu Aksel gesucht, aber die Theorie dann wieder verworfen – und jetzt schien es plötzlich doch einen Zusammenhang geben zu können. Vielleicht war Aksel tatsächlich in Frankreich gewesen. Und danach dann in Oslo …
Sie sah, wie Jan-Ole ins Leere starrte.
Frode räusperte sich, als wollte er darauf aufmerksam machen, dass er auf eine Antwort wartete.
Jan-Ole streifte Merette mit einem schnellen Blick, den sie nicht deuten konnte, bevor er fast schon unwirsch sagte: »Das interessiert uns im Moment nicht. Weiter, was hast du sonst noch?«
»Ich dachte ja nur«, brummte Frode. »Hätte ja sein können. Aber wenn du damit nichts anfangen kannst …«
Er zuckte mit der Schulter.
»Was hast du noch?«, wiederholte Jan-Ole.
Merette hatte den Eindruck, dass ihm die Information über die kurze zeitliche Lücke in Aksels Biografie tatsächlich bereits nicht mehr interessierte. Sein Gehirn war offensichtlich durch die lange Arbeit als Ermittler darauf programmiert, nach Zusammenhängen zu suchen und sie auf ihre Schlüssigkeit hin abzuklopfen. Die Theorie, dass Aksel womöglich Marie schon vorher gekannt hatte, war nicht haltbar gewesen, damit war auch jede weitere Information, die in diese Richtung deutete, nichts als ein Unsicherheitsfaktor, der die Gefahr barg, sich erneut zu verzetteln. Jan-Ole hatte seine Prioritäten gesetzt und würde für den Moment auch nicht mehr von seiner neuen Arbeitshypothese abweichen. Sie bewunderte ihn im Stillen dafür, dass er dazu in der Lage war.
Frode blätterte eine Seite in seinem Block um.
»Das Alter der Mädchen«, sagte er. »Da gibt es etwas, was bisher noch niemandem aufgefallen zu sein scheint.«
»Könntest du es bitte nicht ganz so spannend machen?«, fragte Jan-Ole leise, während er das Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte und kurz davor schien, selber nach Frodes Block zu greifen.
»Als Erstes haben wir da seine Stiefschwester, die ertrunken ist«, referierte Frode ungerührt. »Zum Zeitpunkt des Unfalls war sie zwölf Jahre alt. So, und dann haben wir ein Mädchen, das ebenfalls ertrunken ist, genau ein Jahr später, und zwar im Sundfjord, wo Aksel mittlerweile im Heim gelandet ist. Alter: dreizehn Jahre. Nach weiteren fünf Jahren gibt es da oben einen erneuten Unglücksfall mit einem Mädchen, das Mädchen ist achtzehn Jahre alt.« Er blickte hoch. »Könnt ihr mir so weit folgen?« Er wartete, bis Jan-Ole und Merette nickten. »Gut, dann passiert erst malnichts, jedenfalls nichts, was hier irgendwo vermerkt wäre. Aksel macht eine Lehre als Koch, Aksel schließt seine Ausbildung ab, Aksel verschwindet kurz, aber das interessiert euch ja nicht, Aksel nimmt eine Stelle auf Bryggen an. Als ihn die Bedienung aus der Kneipe da anschwärzt, dass er sie bei einem kleinen Ausflug mit dem Ruderboot umbringen wollte, sind mittlerweile sechs Jahre
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