Schwesterlein muss sterben
vergangen, die Bedienung ist vierundzwanzig Jahre alt. Also, Leute, zumindest rein rechnerisch …«
»Julia ist ebenfalls vierundzwanzig«, unterbrach ihn Jan-Ole und blickte zu Merette. »Ergibt das einen Sinn?«
Merette fühlte sich, als würde sie außerhalb von sich stehen und sich selbst beobachten können. Sie spürte, wie ihr Herz raste, aber sie hatte keine Mühe, ihre Schlussfolgerungen klar und präzise zu formulieren.
»Er wiederholt den Unfall von damals, immer wieder und wieder. Warum die Abstände dazwischen unterschiedlich lang sind, weiß ich nicht. Vielleicht gibt es bestimmte Situationen, die seine Handlung auslösen und die ursprünglich nicht von ihm geplant sind. Aber er folgt dennoch einem Muster: Seine Opfer sind immer genauso alt, wie die Stiefschwester wäre, wenn sie noch leben würde. – Aber für Marie stimmt das nicht«, setzte sie dann hinzu. »Marie ist ein Jahr älter als Julia, sie muss schon fünfundzwanzig sein …«
»Du vergisst, dass es ihm nicht um Marie ging«, warf Jan-Ole ein. Er hieb sich mit der Faust in die offene Hand. »Und bingo! Da haben wir den Hintergrund, nach dem wir gesucht haben. Und damit dürfte auch klar sein, dass das Geständnis, dass er dir geliefert hat, verdammt wahr gewesen ist, aus welcher Motivation heraus auch immer er sich dazu entschlossen hat.«
»Der Mitteilungsdruck«, sagte Merette. »Das passt zu seinem übersteigerten Narzissmus. Er will wichtig erscheinen! Und die Macht, die er gleichzeitig über mich bekommen hat, indem er mich in einen Gewissenskonflikt bringt.«
»Wie auch immer«, wiederholte Jan-Ole. »Gute Arbeit, Frode.«
Zum ersten Mal blickte Frode jetzt direkt zu Merette.
»Ihr habt da eben von einer Julia geredet, das ist deine Tochter, oder? Und Marie ist diese junge Frau aus Oslo, die vermisst wird, du hast mich gestern darauf angesprochen, ich weiß, aber ich dachte wirklich nicht, dass … Sorry, Leute, ich glaube, ich habe echt Mist gebaut!«
Frodes Blick irrte hilflos zwischen Merette und Jan-Ole hin und her. Im nächsten Moment klingelte Jan-Oles Handy.
Noch während er das Gespräch annahm, wusste Merette, dass etwas passiert war.
Sie war fast irritiert, als Jan-Ole zunächst »sehr gut« sagte und dann das Handy kurz gegen seine Jacke hielt, um Merette zu informieren. »Die Kollegen haben Maries Tasche gefunden. In der Putzkammer auf dem Treppenabsatz vor Julias Wohnung.«
Jan-Ole nahm das Handy wieder ans Ohr. Gleich darauf wich alles Blut aus seinem Gesicht.
»Was? Wieso? Aber das ist unmöglich! Ihr wart doch die ganze Zeit vor der Tür! Da konnte niemand rein oder raus, ohne dass ihr … Ja, verstehe. Ja, gebt eine Suchmeldung raus, aber schnell! Ich bin in zehn Minuten da, ich will selber mit euch reden.«
Noch während Jan-Ole telefonierte, war Merette aufgesprungen.Jetzt griff sie nach seinem Arm. Ihr Atem ging keuchend, als sie fast schrie: »Was ist los? Ist irgendwas mit Julia?«
»Die Kollegen, die zu Julias Schutz abgestellt waren, sind zu ihr hoch ins Treppenhaus, um nach Maries Tasche zu suchen. Aber dann kam es ihnen komisch vor, dass sich Julia nicht gerührt hat, obwohl sie genug Lärm gemacht haben, direkt vor ihrer Wohnung. Also haben sie geklingelt. Und sich dann gewaltsam Zutritt verschafft, als Julia immer noch nicht reagiert hat. Sie ist weg! Nichts, keine Spur von ihr! – Ruf sie an, ich hab ihre Nummer nicht.«
Merettes Hände zitterten so sehr, dass sie kaum in der Lage war, Julias Nummer aufzurufen.
Julias Handy war ausgeschaltet.
X
Er hatte im ersten Moment keine Ahnung gehabt, wer der Typ vor der Hütte war. Einer von den Dauercampern, die ihre Wohnwagen unten am Kiesstrand stehen hatten, so viel war dann immerhin klar geworden. Ein Angler, der seine Tage im Ruderboot zwischen den Schären verbrachte und auf den ganz dicken Fisch wartete, mit dem er sich dann für irgendein bescheuertes Magazin fotografieren lassen konnte. Und jetzt spielte er sich als der besorgte Kumpel auf, der angeblich nur wissen wollte, ob alles in Ordnung war.
»Ich hab dich zufällig beobachtet, wie du zum Toilettenhaus gehinkt bist. Sah nicht gut aus. Aber wenn es ein Problem gibt, sollst du wissen, dass wir hier alle füreinander da sind. Also wenn du Hilfe brauchst, kannst du jederzeit kommen. Ich kann dich auch zum Arzt fahren oder für dich einkaufen, wenn du etwas brauchst.«
»Ist nett, danke, aber es geht schon. Eine blöde Schnittwunde, sonst nichts. Eigene Schuld, hab eine Flasche
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