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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freda Wolff
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einen Moment warten, bis der erneute Schwindelanfall vorüber war und er sicher genug auf den Beinen stand, um das Moped in das Gebüsch zu schieben, das er bereits bei seinen letzten Besuchen als Versteck benutzt hatte. Ein spitzer Dorn riss ihm den Handrücken auf, aber er spürte keinen Schmerz. Er leckte sich den Blutfaden von der Haut und blickte sich um.
    Die Halbinsel lag wie immer verlassen vor ihm, es gab auch keinerlei Anzeichen, dass in der Zwischenzeit irgendjemand hier gewesen war. Trotzdem zuckte er unwillkürlich zusammen, als ein Fuchs direkt vor ihm über die Fahrspuren schnürte.
    Eine einsame Möwe ließ sich hoch über ihm mit ausgebreiteten Schwingen vor dem Wind treiben und begleitete ihn auf seinem Weg bis zur Hütte. Die Möwe irritierte ihn. Er fühlte sich von ihr beobachtet. Als sie plötzlich kreischte, hatte er das Gefühl, dass sie sich über ihn lustig machen würde!
    Als Junge hatte er einmal eine verletzte Möwe unten am Ufer gefunden. Sein Adoptivvater hatte ihn gezwungen zuzusehen,wie er den hilflosen Vogel mit einer Holzlatte erschlug und ins Wasser warf.
    »Das nächste Mal weißt du, was ein richtiger Mann tun muss«, hatte er erklärt. »Und jetzt hör endlich auf zu heulen.«
    Als der Adoptivvater dann zum Einkaufen ins Dorf gefahren war, hatte er den Kadaver aus dem Wasser gefischt und quer über die Halbinsel geschleppt, um ihn auf dem Friedhof zu begraben. Und seine kleine Schwester hatte aus zwei Stöcken ein Kreuz gebastelt.
    Er hatte kaum das Vorhängeschloss geöffnet und die Tür aufgestoßen, da wusste er, dass sich etwas verändert hatte. Es war fast, als könnte er die Gefahr riechen. Unwillkürlich stellten sich die Härchen auf seinen Unterarmen auf, er hatte Mühe, unter der Maske zu atmen, der Schweiß lief ihm in Strömen über den Rücken. Er schaltete die Taschenlampe ein und ließ den Lichtkegel durch den Schuppen wandern.
    Das Miststück hatte sich in die Ecke hinter dem Tisch verkrochen. Ihr T-Shirt und der kurze Rock starrten vor Dreck, ihre Knie waren aufgeschürft und blutverkrustet. Aber zum ersten Mal hatte sie die Augen nicht angstvoll aufgerissen, sondern versuchte, seinen Blick über den Lichtstrahl hinweg zu fixieren. Ihr ganzes Gesicht hatte einen neuen Ausdruck, den er kaum deuten konnte,Wut vielleicht,Trotz, Empörung.
    Vorsichtig leuchtete er den Boden ab, dieses Mal würde er auf der Hut sein, aber soweit er es erkennen konnte, gab es keinen neuen Nagel oder irgendeine andere Falle. Erst als er sich ihr schon bis auf knapp zwei Meter genähert hatte, begriff er, was sie vorhatte. Er hatte den Toiletteneimer direkt vor ihren Füßen zwar gesehen, aber keinen Schluss daraus gezogen. Vielleicht war es auch das Schmerzmittel, das seineReaktionen deutlich verlangsamte. Er wollte noch zur Seite ausweichen, doch sie hatte bereits die Füße angezogen und im nächsten Moment nach vorne gestoßen – die Wucht war so groß, dass ihn der Eimer am Knie traf und der übel riechende Inhalt bis zu seinem Gesicht hochspritzte.
    Fluchend sprang er zurück und konnte nur mit Mühe den Würgereiz unterdrücken, den der Ekel in ihm auslöste.
    »Ist das widerlich!«, keuchte er. »Du verdammtes Drecksstück, bist du völlig durchgeknallt? Das wirst du mir büßen, du … du …« Ohne nachzudenken, wischte er über die Flecken auf seiner Hose und der Jacke, nur um gleich darauf entsetzt auf seine Hände zu starren und zur Tür zu stürzen. Während er sich über dem Steg zusammenkrümmte und seinen Mageninhalt auf die Bohlen spuckte, hörte er ihr Lachen aus dem Schuppen.
    Als er nur noch bitter schmeckende Galle hochwürgte, watete er ein Stück ins Schilf hinaus, um sich notdürftig zu säubern. Die Kühle des Wassers tat nicht nur seinem verletzten Fuß gut, sondern half ihm, seine Gedanken zu ordnen.
    »Und? Willst du mich jetzt bestrafen?«, höhnte die kleine Schlampe, als er zurück in die Hütte kam.
    Er wusste nicht, was eigentlich passiert war, aber sie hatte keine Angst mehr vor ihm. Die Sache mit dem Nagel war ein mieser Trick gewesen, den sie sich in ihrer Verzweiflung ausgedacht hatte. Aber jetzt war ihr Verhalten völlig verändert. Die Situation war so neu für ihn, dass er sich wie gelähmt fühlte. Ihre Angst war der Kitzel gewesen, der ihn angemacht hatte, ohne diese Angst hatte er keine Macht mehr über sie.
    Als sie sah, dass er sich bemühte, den verletzten Fuß möglichst zu schonen, grinste sie ihn selbstgefällig an.
    »Ich hoffe, es tut

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