Schwesterlein muss sterben
Tatsache, dass Jan-Ole immer noch in direktem Zusammenhang mit der Polizei stand, zu Marie, zu Julia, zu Aksel, der vielleicht irgendwo da draußen lauerte und dessen mögliche Reaktionen weniger einschätzbar waren als je zuvor.
Irgendwann musste sie dann doch weggedämmert sein. Als eine Amsel auf dem Fensterbrett lautstark zu zwitschernbegann, fuhr Merette hoch und tastete automatisch nach dem Wecker. Ein Blick auf das Ziffernblatt zeigte ihr, dass es bereits kurz vor sechs war, deutlich hörte sie jetzt auch die Müllabfuhr vor dem Haus.
Sie nahm ihre Decke und ihr Kopfkissen und schlich auf bloßen Füßen ins Gästezimmer hinüber. Sie brauchte ganz einfach nur Jan-Oles Nähe und hoffte inständig, dass er es akzeptieren würde, ohne irgendwelche Konsequenzen daraus abzuleiten.
»Nur kuscheln«, flüsterte sie und legte sich seinen Arm zurecht, bis ihr Kopf bequem auf seiner Schulter lag. Seine Haare rochen immer noch leicht nach Terpentin, der Geruch war ihr gestern schon aufgefallen. Jan-Ole öffnete kaum die Augen, schien aber dennoch hellwach zu sein.
Eine Weile lagen sie einfach nur so nebeneinander und spürten die Wärme des anderen. Als Jan-Ole zu reden anfing, klang seine Stimme tief und brummend, als käme sie weit unten aus seinem Bauch.
»Jetzt sag bloß nicht, du hast es nicht vermisst, manchmal wenigstens …«
»Soll ich ehrlich sein?«, fragte Merette, ohne sich zu rühren.
»Ich bitte darum.«
Sie kicherte unwillkürlich, bevor sie ganz ernsthaft antwortete: »Ja und nein. Es ist … irre, was im Kopf alles passiert, sobald man mit dem Sex aufhört. Ein bisschen wie beim Fasten vielleicht. Irgendwann hatte ich Phantasien, die so sinnlich waren, wie ich es mir nie hätte vorstellen können.«
»Ich frage jetzt besser nicht, was das genau bedeutet.«
»Ich würde es dir auch nicht erzählen.«
»Aber ich verstehe das richtig, dass ich noch nicht mal im Traum daran zu denken brauche, diese … Phantasien jemals einholen zu können?«
Merette kicherte wieder. »Ich fürchte, das stimmt. Du nicht und auch kein anderer. Das ist so. Aber das ist auch nicht schlimm«, setzte sie hinzu, während sie sich über ihn beugte und sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht schob. »Es gibt ja zum Glück noch ein paar andere Dinge, die mir auch Spaß machen. Und da kannst du sehr wohl etwas tun …«
Sie tastete sich mit der Hand unter seine Decke und ließ sie langsam über seine Brust wandern. Als sie ihre Fingerspitze um seine Brustwarze kreisen ließ, hielt er ihre Hand fest.
Seine Augen hatten diesen grünlichen Schimmer, der Merette wieder an die Farbe eines Gletschersees hoch oben auf dem Folgefonn erinnerte, zu dem sie hinaufgewandert waren, als sie sich gerade erst ein paar Wochen kannten. Merette war bereits schwanger gewesen, und Jan-Ole hatte ihr und »unserem Kind« begeistert die einsame Schönheit des Gletschers präsentiert – so stolz, als hätte er selbst diese Bergwelt erschaffen.
Jetzt griff er mit beiden Händen nach ihrem Gesicht und drehte ihren Kopf ins Licht.
»Du weißt, dass dir Julia wie aus dem Gesicht geschnitten ist?«, flüsterte er. »Ich habe es gerade gestern Mittag erst wieder gedacht. Jetzt, wo sie älter ist, wird es immer deutlicher, ihr seht euch zum Verwechseln ähnlich, die hohen Wangenknochen, der Mund, sie hat sogar die gleiche Art, die Nase krauszuziehen, wenn sie lacht …«
Mit einem Ruck setzte sich Merette aufrecht hin. DieBettdecke rutschte von ihren Schultern, sie keuchte fast, als sie Jan-Ole aufforderte: »Sag das noch mal.«
»Was?«, fragte Jan-Ole irritiert. »Ich habe doch nur …«
»Du behauptest, man könnte uns glatt verwechseln? Wenn das Licht vielleicht nicht gut ist …«
»He, natürlich sieht man einen Unterschied! Dein Gesicht ist spannender, man sieht, dass du … etwas erlebt hast, bei Julia ist das alles noch irgendwie unfertig. Aber was ist los? Was hast du plötzlich?«
»Es geht nicht um Julia und mich! Es ist auch nur so ein Gedanke, ich bin neulich schon mal darüber gestolpert, aber ich habe das nicht zu Ende gedacht. Da gibt es doch dieses Foto von Marie in der Zeitung, zu der Meldung, dass sie vermisst wird, und als ich das Bild gesehen habe, dachte ich im ersten Moment wirklich, dass es gar nicht Marie ist, sondern Julia!«
Langsam richtete sich Jan-Ole auf. Sein Blick war so konzentriert, dass Merette sich nervös auf die Unterlippe biss.
»Vielleicht spinne ich ja auch«, brachte sie leise an. »Es ist nur
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