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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freda Wolff
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ohne nachzudenken, und drückte den Daumen auf die rote Taste der Fernbedienung. Das Fernsehbild erlosch, die Stille war fast unheimlich.
    Der Raum lag jetzt in einem diffusen Licht, das sich kaum von der Dämmerung draußen unterschied. Jan-Ole duckte sich mit einem schnellen Schritt unter dem Fenster hindurch. Als er sich aufrichtete, hörte Merette deutlich das kurze Klacken, mit dem er die Waffe entsicherte. Gleich darauf schoss ein Schatten vor der Scheibe vorbei, ein Vogel, der laut zwitschernd davonflog. Jan-Ole stieß die Luft aus. Er deutete mit der Waffe auf einen handtellergroßen Fleck auf dem Fensterglas: »Ein Vogel ist gegen die Scheibe geflogen, das war es. Aber bleib, wo du bist, ich will lieber noch mal raus und nachsehen.«
    Von der Küche führten ein paar Stufen auf die winzige Terrasse hinunter, die sich Merette vor einiger Zeit im Hof angelegt hatte. Eigentlich nur ein paar grob zusammengefügte Steinplatten, auf denen dicht nebeneinander ihre Töpfe mit den Gewürzpflanzen standen, Zitronenmelisse, Rosmarin, Thymian, auch ein Salbeibusch, den sie wundersamerweise über den letzten Winter gerettet hatte und der es ihr üppig wuchernd dankte.
    Sie hörte, wie Jan-Ole die Tür öffnete und hinter sich leise wieder ins Schloss zog. Dann hielt sie es nicht mehr aus und trat ans Fenster. Jan-Ole stand direkt unter ihr, die Waffe vorschriftsmäßig mit beiden Händen vorgestreckt, bis er sich sicher war, dass sich niemand sonst auf dem Hof befand. Er schob die Waffe zurück in den Hosenbund, ging dann aber doch noch mal die Hauswand ab, als würde er nach irgendwelchen Spuren suchen.
    »Wahrscheinlich nur eine Katze, die den Vogel aufgeschreckthat«, erklärte er, als er wieder in die Küche trat. »Tut mir leid, wenn ich überreagiert habe. Ich wollte dir keine Angst machen.«
    »Du warst schnell«, stellte Merette nur fest, um gleich darauf hinzuzusetzen: »Kannst du mir eigentlich mal sagen, was das jetzt ist mit dir und der Polizei? Ich meine, du beantragst einfach eben mal so Personenschutz für Julia, du trägst immer noch eine Waffe, und überhaupt, du benimmst dich, als ob du nach wie vor dazugehören würdest! Ich bin doch nicht völlig naiv, Jan-Ole, das passt doch alles nicht …«
    Jan-Ole fuhr sich mit einer resignierten Geste übers Gesicht, bevor er antwortete. »Warum fragst du mich? Du ahnst es doch längst.«
    »Wie? Was soll ich wissen?«
    »Ich kann dir das nicht erklären, also bitte, setz mich nicht unter Druck.«
    »Aber deine Arbeit als Künstler! Ich dachte, du …«
    »Ist nur ein Teil meines Lebens. Lass es dabei, bitte. Je weniger du weißt, umso besser für dich. – Aber das ändert auch nichts an der Situation, solange wir diesen Aksel nicht haben, müssen wir mit allem rechnen. Ich verzieh mich jetzt ins Gästezimmer. Und bei der geringsten Kleinigkeit, die dir komisch vorkommt …« Er ließ den Satz offen und strich ihr nur leicht über den Arm. »Ich bin da, Merette. Wir kriegen das hin. Lass uns versuchen, ein bisschen zu schlafen, okay?«
    »Dein Bett ist gemacht. Und ich habe dir ein Handtuch ins Bad gelegt, und eine neue Zahnbürste.«
    Merette blieb in der Küche stehen, bis sie das Wasser rauschen hörte. Dann griff sie nach ihrem Handy.
    Julias Stimme klang verschlafen. »Ja?«
    »Ich wollte nur noch mal …«
    »Mama, du nervst gerade mal wieder ein bisschen! Es ist alles okay, mach dir keine Sorgen. Und ich bin auch nicht alleine. Erik hat ein paar Kommilitonen mitgebracht, und wir reden über die Eröffnung. Es tut mir ganz gut, mal nicht die ganze Zeit an Marie denken zu müssen.«
    Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte Merette das Gefühl, dass Julia glattweg log. Sie war alleine, sonst hätte Merette zumindest irgendwelche Stimmen hören müssen. Oder Julia hatte nicht Erik und irgendwelche anderen Kunststudenten zu Besuch, sondern …
    Nur mit Mühe schaffte es Merette, den Gedanken zu unterdrücken, der sie augenblicklich wieder panisch werden ließ.
    Später lag sie in ihrem Bett und hörte, wie Jan-Ole im Nebenzimmer telefonierte. Er sprach bewusst leise, um sie nicht zu wecken, aber aus den wenigen Bruchstücken, die sie verstand, konnte sie sich zusammenreimen, dass er mit den Personenschützern vor Julias Haus redete und ihnen nochmals genaue Instruktionen gab. Dennoch spürte sie deutlich, dass Jan-Oles Umsicht sie nicht wirklich zu beruhigen vermochte.
    Schlaflos wälzte Merette sich hin und her, ihre Gedanken sprangen von der offensichtlichen

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