Schwesterlein muss sterben
Antwort. Mikkes Schrift war kaum zu entziffern, ein paar Wörter nur, in aller Eile hingeschmiert. HAB KEINEN BOCK AUF FAMILIE. RUF MICH AN, WENN DU MICH NOCH MAL SEHEN WILLST. MIKKE. Und eine Handynummer.
Julia knüllte den Zettel zusammen und warf ihn in den Papierkorb.
»Und das war’s dann wohl« sagte sie zu Merette. »Du brauchst dir also keine Sorgen mehr zu machen, hat sich von alleine erledigt. Er steht offensichtlich nicht auf jemanden, der keinen Schritt machen kann, ohne dass Mama vorbeiguckt, um zu sehen, ob alles okay ist.« Sie wusste, dass das unfair war. Und es war auch nicht mehr Merette, über die sie sich ärgerte, sondern Mikke, aus dem sie nicht schlau wurde.
Merette legte ihr vorsichtig die Hand auf den Arm.
»Vielleicht habe ich eine Erklärung für das, was hier gerade abgeht«, sagte sie leise. »Meinst du, du kannst mir mal zehn Minuten zuhören, ohne auszuflippen?«
Eine halbe Stunde später saßen sie immer noch in der Küche. Die Brötchen lagen unangetastet in der Tüte, aber Julia hatte bereits zweimal neuen Kaffee gekocht.
Sie schwankte einerseits zwischen Verunsicherung über das, was Merette erzählte, und der klaren Überzeugung andererseits, dass es einfach nicht stimmen konnte. Das Meiste von dem, was Merette anführte, ließ sich relativ einfach widerlegen. Natürlich stimmte es, dass Mikke irgendwie ein bisschen komisch war, und Julia wusste nichts weiter über ihn außer den paar Informationen, die er ihr gegeben hatte. Aber alleine die Beschreibung, die Merette von ihrem Patienten lieferte, passte nicht. Nicht nur, dass erAksel hieß, aber vor allem war er blond, während Mikke fast schwarze Haare hatte. Auch die Klamotten ließen keinerlei Gemeinsamkeiten erkennen – Jogginganzug gegen Jeans und Lederjacke. Und schließlich gestand Julia dann auch, dass sie sehr wohl die Bandaufnahme gehört hatte, zumindest zu einem Teil, bis es ihr zu abartig geworden war.
»Es war ein Versehen, okay? Ein blöder Zufall. Aber die Stimmen ähneln sich überhaupt nicht, vor allem hat Mikke nicht diesen Tonfall wie jemand, der sich permanent angegriffen fühlt, obwohl er gleichzeitig klingt, als wollte er dir unbedingt eins auswischen.«
»Gut beschrieben.« Merette griff nach Julias Hand und drückte sie, als wollte sie ihr zu verstehen geben, dass damit auch die Sache mit der Bandaufzeichnung endgültig erledigt war. Sie hat es ohnehin die ganze Zeit gewusst, dachte Julia. Ich hätte schon viel eher damit rausrücken sollen, das hätte es einfacher gemacht.
Ihr Hauptargument allerdings behielt Julia für sich: Sie war mit Mikke im Bett gewesen, und so, wie er sich da verhalten hatte, war er ganz sicher niemand, der kleine Mädchen ermordete.
»Hör auf, Mama«, sagte Julia. »Es passt nicht, Mikke ist nicht dein Patient.«
»Du unterschätzt, dass Soziopathen durchaus in der Lage sind …«
»Mama, hör auf«, wiederholte Julia. »Ich glaube, es geht eher darum, dass du nicht weißt, ob es wahr ist, was er behauptet. Ruf bei deinen Kollegen in der Sozialpsychiatrie an und gib den Fall ab. Außerdem solltest du wirklich zur Polizei gehen. Es hat doch nichts mehr damit zu tun, dassdu an deine Schweigepflicht gebunden bist. Wenn er wirklich …«
»Das geht nur, wenn ich mir sicher sein könnte, dass er tatsächlich eine Bedrohung für irgendjemanden darstellt.«
»Und? Du bist doch davon überzeugt, dass es so ist! Also. Aber lass mich da raus aus der Sache, er ist nicht hinter mir her, ganz bestimmt nicht. Er legt es nur genau darauf an, dass du Panik kriegst, das ist alles. Und das hat er ja schon mal geschafft.«
Für einen Moment starrte Merette vor sich auf die Tischplatte. Mit dem Zeigefinger zeichnete sie Kreise in den Kaffeefleck neben ihrer Tasse. Als sie aufblickte, lächelte sie, als wollte sie um Verzeihung bitten.
»Tut mir leid, wenn ich dich jetzt damit belastet habe. Das wollte ich nicht. Aber ich fand, dass du Bescheid wissen musst. Und was deinen Mikke da angeht, hoffe ich nur, dass du recht hast.«
»Er hat nichts damit zu tun, ganz sicher nicht. Aber ich pass auf mich auf, versprochen. Und ich denke, ich werde ihn sowieso nicht wiedersehen.«
Julia wusste nicht, ob sie ihre Mutter wirklich überzeugt hatte. Aber vielleicht war es auch egal. Wichtig war, dass Julia selbst überzeugt war. Und dass sie endlich miteinander geredet hatten. Sie fühlte plötzlich eine Nähe zu Merette, wie sie lange nicht mehr zwischen ihnen gewesen war. Und sie war froh
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