Schwesterlein muss sterben
vernünftig galt – und trotzdem war sie von der Strömung abgetrieben und erst zwei Tage darauf gefunden worden.
Merette vermochte nicht wirklich zu sagen, warum sie augenblicklich einen Zusammenhang mit dem Geständnis ihres Patienten hergestellt hatte, vielleicht war es nur das Alter des Mädchens, auch die kleine Schwester, die er angeblich ermordet haben wollte, war damals zwölf Jahre alt gewesen. Wahrscheinlich war es genau die Verknüpfung: ein zwölfjähriges Mädchen, das ertrunken war, und die Tatsache, dass das Unglück ganz in der Nähe passiert war. Und ihr Patient, dem sie mittlerweile durchaus zutraute … ja, was eigentlich? Dass er tatsächlich seine Schwester ermordethatte? Dass es nicht der einzige Mord gewesen war? Dass er gerade erst wieder gemordet hatte?
Sie schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. Was sie da machte, war vollkommen idiotisch! Viel naheliegender wäre es gewesen, zunächst mal mit dem Betreuer zu reden, der ganz sicher mehr über ihren Patienten wusste, als sich dem kurzen Vermerk entnehmen ließ, mit dem er das psychologische Gutachten angefordert hatte. Aber erstens war es Samstag gewesen, und der Betreuer war nicht zu erreichen, und davon ganz abgesehen, war Merette nun auch mal keine Polizistin.
Mit einem anderen Telefonat hatte sie am Tag zuvor mehr Glück gehabt. Auf ein paar Umwegen hatte sie die Nummer des früheren Mitarbeiters aus dem Jugendamt herausgefunden, der jetzt im Ruhestand war und auf einer Insel im Stavanger Fjord lebte. Ingvar Alnæs, der womöglich sogar der illegitime Vater ihres Patienten war! Allerdings war es nicht ganz einfach gewesen, Alnæs dazu zu bekommen, dass er ihr überhaupt zuhörte und nicht gleich wieder auflegte. Ihr Verhältnis war alles andere als das, was man als »kollegial« bezeichnen konnte, und ihr Gespräch war von Anfang an von äußerster Skepsis seinerseits geprägt. Als hätten alle Alarmglocken bei ihm geklingelt, dass ihn unerwartet die Vergangenheit einholen könnte und er auf keinen Fall etwas sagen durfte, woraus Merette ihm noch nachträglich einen Strick drehen konnte.
»Ich will nur wissen, was damals wirklich passiert ist«, hatte Merette ihn zu beruhigen versucht. »Der Grund, warum Aksel die Pflegefamilie verlassen musste und weshalb ihr ihn dann wieder ins Heim eingewiesen habt. Ich finde dazu nur deine Aussage, dass er nicht mehr vermittelbarfür eine neue Familie war, weiter steht nichts in der Akte.«
»Und du glaubst, ich kann mich daran erinnern? Nach weit über zehn Jahren?«
»Ich bin mir sicher. Du weißt ja auch noch, dass es über zehn Jahre her ist, daraus schließe ich, dass du mit dem Namen sehr wohl etwas anfangen kannst.«
»He, mal langsam, ja? Du rufst mich hier einfach an und beschuldigst mich …«
»Das tue ich nicht, Ingvar. Und es interessiert mich im Moment auch nicht, warum die Akte von damals mehr oder weniger unvollständig ist, darum geht es gar nicht. Aber ich brauche deine Hilfe. Ich habe wirklich ein Problem und komme sonst nicht weiter.«
»Freut mich zu hören, dass du ein Problem hast. Es geschehen also doch noch Zeichen und Wunder.«
»Jetzt komm, Ingvar, lass uns bitte für einen Moment vergessen, was wir beide an Schwierigkeiten miteinander hatten …«
»Fällt mir schwer, das zu vergessen. Und ich wüsste auch keinen Grund, warum ich ausgerechnet dir helfen sollte. Sieh es doch mal so, ich sitze hier auf meiner Hütte und denke schon lange nicht mehr an den ganzen Mist, mit dem ich mich mein halbes Leben lang beschäftigen musste. Stattdessen kann ich endlich mal Luft holen und mit dem Boot zum Angeln rausfahren und ansonsten den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Und jetzt kommst du und erinnerst mich an alles, was ich lieber für immer vergessen würde. Wie würdest du da reagieren? Würdest du dich freuen, dass das Generve wieder von vorne losgeht?«
Merette war kurz davor gewesen, ihn einfach anzuschreien.Dass er immer zu den Kollegen gehört hatte, die es sehr wohl verstanden, sich irgendwelche Probleme vom Hals zu halten, und denen kaum ein Fall so nahe gegangen sein dürfte, dass sie deshalb schlaflose Nächte hatten. Es gab solche Kollegen, bei denen das so war, aber Ingvar Alnæs gehörte ganz sicher nicht dazu.
Mit Mühe hatte sie auf jeden Kommentar verzichtet und stattdessen nur noch mal gesagt: »Ich lass dich gleich wieder in Ruhe angeln, beantworte mir nur diese eine Frage. Was ist da damals passiert?«
Für einen Moment war es still in
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