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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freda Wolff
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immer noch an der norwegischen Westküste war.
    An einer Tankstelle kaufte Merette eine Flasche Mineralwasser. Ein paar Jugendliche lungerten vor dem Shop herum und pfiffen ihr hinterher. Eher amüsiert stellte sie fest, dass sie die Pfiffe als Kompliment nahm. Als sie wieder in den Volvo stieg, klappte sie die Sonnenblende herunter, um im Schminkspiegel ihren Lippenstift nachzuziehen. Sie war froh, am Morgen eine schwarze Hose und eine ebensolche Bluse ausgewählt zu haben, so dass sie unter den Trauergästen nicht weiter auffallen würde.
    Merette schätzte, dass sie die Beerdigungsgesellschaft noch mehr oder weniger vollzählig im Gasthaus von Telavåg antreffen würde, wahrscheinlich allerdings auch mehr oder weniger betrunken, was für sie vielleicht sogar von Vorteil sein konnte, wenn sie ihre Fragen stellte.
    In Eidesjöen verpasste sie die Abzweigung nach Telavåg, merkte ihren Fehler aber schon nach wenigen hundert Metern und wendete. Irgendwelche Touristen mussten das Straßenschild als Souvenir abgeschraubt haben, vielleicht waren es auch einfach nur Jugendliche gewesen, die für ein bisschen Verwirrung sorgen wollten. Wenig später sah Merette das Schild hochkant an einen Stein gelehnt, im Vorbeifahren erkannte sie deutlich die Einschusslöcher, die es regelrecht durchsiebt hatten. Nicht zum ersten Mal machte ihr der Gedanke Angst, dass ganz Norwegen sich für alles zu begeistern schien, was mit Schusswaffen zu tun hatte –und wenn an der elcharmen Küste gerade mal kein Kaninchen oder Fasan vor den Lauf zu bekommen war, musste eben das nächstbeste Straßenschild dafür herhalten, die norwegische Trappermentalität zu befriedigen.
    Als sie über eine Kuppe kam, lag die Bucht von Telavåg so unerwartet vor ihr, dass sie irritiert in die Bremse stieg. Sie hatte vergessen, wie friedlich die Schärenküste wirken konnte, trotz der eher traurigen Ansammlung von tristen Zweckbauten auf der gegenüberliegenden Seite. Telavåg war alles andere als ein Schmuckstück, das als Postkartenmotiv taugte. Die gellende Hupe eines Pick-up-Trucks, der sich schlingernd an ihr vorbeischob, riss sie in die Realität zurück. Sie gab wieder Gas und folgte dem Truck, bis sie an den ersten Häusern war, die sie ausnahmslos mit Autowracks und ausrangierten Kühlschränken oder Waschmaschinen in den Einfahrten empfingen.
    Merette fuhr langsam weiter, bis sie gleich neben einem Geschäft für Anglerbedarf – mit einem handgeschrieben Zettel an der Tür, auf dem GESCHLOSSEN stand – auch das Dorfgasthaus entdeckte und anhielt. Von dem Reklameschild blätterte die Farbe ab, Tür und Fenster waren mit Brettern vernagelt, der Parkplatz war von Unkraut überwuchert. Die Beerdigungsfeier fand jedenfalls irgendwo anders statt, aber es war weit und breit kein Mensch zu sehen, den sie hätte fragen können.
    Sie orientierte sich an dem Kirchturm, der hinter den Hausdächern aufragte, die unscheinbare Holzkirche stand auf einer sumpfigen Wiese direkt am Wasser. Auch hier gab es keine Autos auf dem mit grobem Kies bestreuten Parkplatz. Als Merette ausstieg und die Klinke probierte, war die Tür verschlossen.
    Ein alter Mann in einem zerschlissenen Anzug war damit beschäftigt, Steine von dem kleinen Acker hinter seinem Haus aufzulesen. Dicht an der Mauer hatte er bereits einen beachtlichen Haufen zusammengetragen.
    Merette wartete, bis er sich aufrichtete und in ihre Richtung blickte.
    »Hej!«, rief sie ihm über die Mauer hinweg zu. »Entschuldigung, aber können Sie mir sagen, ob es hier irgendwo noch einen Gemeinderaum von der Kirche gibt, oder … Ich suche die Trauergesellschaft, von der Beerdigung heute Vormittag.«
    »Ist vorbei, die Beerdigung.«
    »Ja, das weiß ich. Aber ich dachte …«
    Er kam jetzt auf sie zu, legte zwei oder drei faustgroße Steine auf den Haufen und stützte sich dann mit rissigen Händen auf die Mauer, um Merette skeptisch zu betrachten. Sein Blick wanderte von ihren Schuhen über die schwarze Hose und die Bluse bis zu ihrem Gesicht. Sie versuchte ein zögerndes Lächeln und nickte ihm noch mal zu.
    Er schüttelte den Kopf, beugte sich vor und tippte mit dem Zeigefinger auf ihren Arm.
    »Du kommst nicht von hier.«
    »Was? Nein, ich bin aus Bergen und …«
    »Nein. Du bist deutsch, das höre ich.«
    Merette holte tief Luft. Es war lange her, dass irgendjemand über ihre Aussprache gestolpert war, und eigentlich war sie überzeugt, dass sie nach den fast fünfundzwanzig Jahren, die sie jetzt in Norwegen

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