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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freda Wolff
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der Leitung geblieben, so dass Merette schon fürchtete, er hätte einfach aufgelegt, obwohl da immer noch das Rauschen der Brandung zu hören gewesen war und vereinzelte Schreie von Möwen.
    Aber dann hatte Alnæs doch noch geantwortet, und jedes Mal nach ein paar Worten keuchend Luft geholt, als hätte er plötzlich einen akuten Anfall von Atemnot.
    »Der Vorfall ist nie geklärt worden, obwohl die Eltern … die Polizei eingeschaltet haben und … Aksel in Anwesenheit einer Kollegin … mehrfach vernommen wurde …«
    Sein ständiges Nach-Luft-Schnappen hatte Merette fast wahnsinnig gemacht.
    »Okay, aber worum ging es dabei?«
    »Du musst schon abwarten, wenn du wissen willst, was ich zu sagen habe. Ich gebe das Tempo vor, nicht du. Sonst können wir es auch lassen. Oder hast du vergessen, wie man jemandem zuhört?«
    Merette hatte sich mit zittrigen Fingern eine neue Zigarette angezündet.
    »Entschuldigung, dass ich dich unterbrochen habe.«
    »Du rauchst, richtig? Solltest du lassen, ist nicht gut für die Lunge.«
    »Ingvar, bitte …«
    Er hatte gelacht, bevor ihn ein Hustenanfall eine neue Pause machen ließ.
    »Also, ich weiß nicht mehr, wie das Mädchen hieß … diese kleine Schwester, aber Aksel … war mit ihr mit dem Ruderboot rausgefahren … sie hatten schwimmen wollen, zwischen den Schären, das hatten sie … wohl schon öfter gemacht, obwohl die Eltern es verboten hatten …«
    »Und?«
    »Und abends kam er dann alleine zurück … hat behauptet, die Kleine wäre plötzlich untergetaucht und … nicht mehr hochgekommen … er hat noch versucht, sie zu finden … Aber er war ja selbst noch fast ein Kind. Sie ist erst Tage später irgendwo angespült worden. War es das, was du wissen wolltest?«
    »Weißt du auch noch, wo das war?«, hatte Merette gefragt.
    »Was tut das zur Sache? Irgendwo an der Küste, die Pflegeeltern hatten da ein Sommerhaus. Nach dem Unglück sind sie dann ohnehin ganz weggezogen, ins Ausland. Frankreich, glaube ich. Aber jetzt reicht es auch«, hatte er noch hinzugesetzt. »Eine Frage, hast du gesagt. Die habe ich dir beantwortet, obwohl ich dazu in keiner Weise verpflichtet war. Und nur dass du das auch noch weißt: Nein, ich bin nicht der Vater von Aksel, obwohl du nicht die Einzige bist, die das vielleicht glaubt. Aber der Grund, warum ich damals die Einrichtung verlassen habe, hatte nichts mit der Schwangerschaft von Aksels Mutter zu tun. Das ist eine ganz andere Geschichte, die dich allerdings nichtsangeht. Also gib dich zufrieden und lass mich endlich in Ruhe.«
    Bevor Merette sich von ihrer Überraschung über seine letzten Worte erholt hatte, war die Verbindung mit einem leisen Klacken unterbrochen worden.
    Julia hatte sie von alldem nichts erzählt. Sie hätte ohnehin niemandem erklären können, warum sie plötzlich nichts Eiligeres zu tun hatte, als nach Sotra hinauszufahren. Wahrscheinlich war es der Hinweis am Ende des Zeitungsartikels gewesen, dass die Beerdigung auf dem alten Friedhof von Telavåg stattfinden würde, am Sonntag um elf Uhr morgens. Natürlich würde Merette zu spät kommen, die Beerdigung musste längst vorbei sein, aber vielleicht konnte sie wenigstens auf der anschließenden Trauerfeier noch ein paar Worte mit den Angehörigen wechseln. Was sie eigentlich genau fragen wollte, wusste sie noch nicht.
    Sie griff nach der Tüte mit den Brötchen, schon nach dem ersten Bissen, auf dem sie endlos herumkaute, hatte sie Mühe zu schlucken. Sie brauchte dringend etwas zu trinken, aber die Wasserflasche, die immer in der Tasche hinter dem Beifahrersitz steckte, war leer.
    Es gab kaum Verkehr auf der Straße, die meisten Sonntagsausflügler tummelten sich längst an den kleinen Badestellen entlang der Schärenküste. An der Kreuzung hinter Brattholmen bog Merette nach links ab, sie kannte die Insel aus der Zeit, als sie selbst noch mit Jan-Ole und Julia solche Badeausflüge unternommen hatte. Und später dann mit Julia alleine. Die wenigen Häuser entlang der Straße hatten sich kaum verändert, als wäre die Zeit auf Sotra stehen geblieben. Nur hier und da gab es ein bisschen Farbe, Gelb und Dunkelblau schienen das traditionelle Falunrot abgelöst zuhaben. Die gestreiften Sonnenmarkisen und die üppig blühenden Hortensienbüsche in den Vorgärten täuschten für einen Moment einen fast südlich-fröhlichen Eindruck vor, bis die nackten und schroffen Felsklippen, die die Insel wie wahllos hingestreut überzogen, Merette daran erinnerten, dass sie

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