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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freda Wolff
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wuchs eine verkrüppelte Birke, der Platz vor der Terrasse war fast gänzlich von Unkraut überwuchert, eine rostige Regentonne lag umgestürzt an der Rückseite. Die Ansammlung leerer Plastikkanister und zerfetzter Müllsäcke ließ darauf schließen, dass wohl auch kaum jemand vorhatte, zur Mittsommernacht seine Freunde hierher einzuladen.
    Die Hütte war nicht groß, wahrscheinlich nur ein einziger Raum mit einem Schlafboden in der Dachschräge, aber früher musste es mal ein kleines Paradies gewesen sein. In einer Senke zwischen den Felsen stand immer noch eine Reihe von Apfelbäumen, im hohen Gras lagen die Überreste eines ehemals weiß gestrichenen Gartenzauns, eine Kinderschaukel war fingerdick mit Möwendreck bekleckert.
    Umso mehr war Merette verblüfft, als sie vorsichtig von dem letzten Felsen nach unten kletterte und die Reifenspuren im Gras entdeckte. Es gab also doch eine Zufahrt, und es war erst vor kurzem jemand da gewesen, das umgeknickte Gras hatte sich noch nicht wieder aufgerichtet.
    Merette zog die Augenbrauen zusammen und blickte sich noch einmal prüfend um. Dann sah sie das Ruderboot,das an dem vermoosten Steg durchs Schilf vertäut war. Selbst aus der Entfernung konnte Merette erkennen, dass das Boot gut gepflegt war, ein weißes Kunststoffboot, dessen Bordwand im Sonnenlicht hell leuchtete. Wahrscheinlich nutzte jemand aus Telavåg den Steg, um von hier zum Fischen rauszufahren. Wenn Merette sich nicht täuschte, war das rostige Ungetüm neben dem Holzschuppen auch ein altertümlicher Räucherofen für Fische.
    Sie hob den Kopf, als sie meinte, vom Schuppen her ein Geräusch gehört zu haben, wie ein zögerndes Klopfen, aber als sie auf eine Wiederholung wartete, blieb alles still. Vielleicht irgendein Tier, das sich unter dem Fußboden eingenistet hat, dachte Merette, sonst ist hier niemand, hör auf, dir etwas einzubilden.
    Sie zuckte mit den Schultern, wie um sich selbst zu beruhigen, und folgte dann kurz entschlossen der Fahrspur, um sich auf den Rückweg zu ihrem Auto zu machen. Falls tatsächlich heute noch jemand kommen würde, wollte sie nicht unbedingt dabei erwischt werden, wie sie sich gerade auf dem Gelände umsah. Wenn sie von dem alten Mann vorhin auf den Rest der Einwohner von Telavåg schließen durfte, wäre sie ganz sicher auch nicht willkommen. Egal, wie sehr die Norweger sonst ihr »Allemannsretten« schätzen mochten, aber sie wollte dieses Recht, auch Privatgrund bei einer Wanderung überqueren zu dürfen, lieber nicht über Gebühr strapazieren.
    Die Fahrspur führte Merette im weiten Bogen unterhalb der Felsen entlang, bis sie an einen Schlagbaum kam, an dem ein verrostetes Blechschild den Zutritt verbot: INGEN ADGANG. PRIVAT.
    Erst als Merette wieder auf dem Schotterweg war undvon weitem den Volvo sah, entspannte sie sich. Als der Motor schon bei der ersten Umdrehung des Zündschlüssels ansprang, war sie so erleichtert, dass sie sich selber fragte, woher die plötzliche Panik überhaupt gekommen war. Aber sie war nicht sie selbst, das wusste sie nur zu gut, sie war nicht nur übermüdet, sondern in einem Maße gestresst, dass sie ihre Reaktionen kaum unter Kontrolle hatte.
    Eigentlich war sie entschlossen, auf direktem Wege nach Hause zu fahren, aber dann sah sie das Auto vor der Kirche, einen beige-braunen Straßenkreuzer aus den sechziger Jahren mit Holzvertäfelung an der Seite, eine echte Antiquität, bei der jemand wie Jan-Ole unverzüglich in Begeisterungsrufe ausgebrochen wäre. Merette hatte kaum den »Jesus liebt dich«-Aufkleber im Heckfenster gesehen, als sie auch schon in die Bremse stieg und neben dem Ami-Schlitten parkte.
    Mit einem schnellen Blick vergewisserte sie sich, dass der Alte nicht mehr auf seinem Acker stand und auch am Haus niemand zu sehen war. Aber selbst wenn er zufällig aus dem Fenster blicken würde, verdeckte der Straßenkreuzer jede Sicht auf den Volvo, der neben dem spritfressenden Ungetüm wie ein Kleinwagen wirkte.
    Die Tür zur Kirche war nach wie vor verschlossen. Als Merette um die Sakristei herum auf die andere Seite ging, stand der Pastor mit dem Rücken zu ihr auf der Wiese. Er starrte regungslos auf die Bucht und rauchte. Sie kannte den Tabakgeruch, »Petterøs No 3«, Jan-Ole drehte sich seine Kippen aus dem gleichen Tabak.
    Merette räusperte sich, doch der Pastor zeigte keine Reaktion. Sie stellte sich neben ihn und nickte.
    »Hej.«
    Es dauerte einen Moment, bevor er antwortete. Und dann schien sein Satz merkwürdig

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