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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freda Wolff
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Felsnase konnte Merette eine kleine Bucht erkennen, dicht am Ufer stand im Schilf versteckt eine einsame Hütte mit einem Holzschuppen daneben. Eigentlich ein schöner Platz für ein Ferienhaus, dachte Merette, weit weg von allem, wahrscheinlich führte noch nicht mal ein befahrbarer Weg dort hinaus. Aber die Mücken dürften da unten am Ufer ein echtes Problem sein!
    Zwischen den Schären dümpelten ein paar Boote, auch ein Fischkutter kreuzte dicht an der Brandungslinie, am Horizont schob sich ein Hurtigrutenschiff vorbei, wahrscheinlich auf dem Weg zum Lysefjord oder direkt nach Bergen.
    Merette fiel wieder ein, wie Jan-Ole ihr damals erklärt hatte, dass man mit dem Ruderboot immer innerhalb der ersten Schärenkette bleiben sollte, weg von der Brandung, die sich weiter draußen an den Felsen brach. Und als Merette am ersten Morgen ihres gemeinsamen Angelausflugs in Gummistiefeln erschienen war, hatte er sie für verrückt erklärt. Sie hatte sein irritiertes Lachen und die gleich darauf folgende Belehrung noch immer Wort für Wort im Ohr, als wäre es gestern gewesen: »Wenn das Boot umschlägt, bist du mit den Gummistiefeln verloren. Sie laufen voll Wasser und saugen sich fest. Du kriegst sie nicht mehr von den Füßen, aber sie ziehen dich wie ein Gewicht nach unten. Wenn du mir nicht glaubst, geh mit den Dingern ins Wasser und versuch zu schwimmen. Dann wirst du merken, was ich meine.«
    Die nächsten Stunden hatte sie dann frierend mit ihren hoffungslos durchnässten Segeltuchturnschuhen im Boot gehockt, während Jan-Ole fröhlich pfeifend die Makrelenangel ausgeworfen hatte und alle paar Minuten einen silbrig glänzenden Fisch vom Haken zog, ihm mit einem schnellen Griff die Kiemen durchtrennte und die Innereien den Möwen zuwarf, die sich kreischend dicht an Merettes Kopf vorbei auf die Brocken stürzten.
    Später hatte Jan-Ole drei oder vier große Makrelen gleich neben der Hütte am offenen Feuer gebraten. Den Rest des Fangs hatte er noch am Abend filettiert und eingesalzen, um ihn dann zu Hause in Bergen auf dem winzigen Balkon zum Trocknen an die Wäscheleine zu hängen. Lange noch, bevor sie in das große Haus am Strangehagen umgezogen waren …
    Aber vielleicht war Merette da bereits zum ersten Mal derVerdacht gekommen, dass sie eigentlich gar nichts von Jan-Ole wusste. Und dass sie sich auf etwas eingelassen hatte, was früher oder später zu einem Problem werden würde. Obwohl sie es dann doch irgendwie geschafft hatten, zumindest so lange zusammenzubleiben, bis Julia schon fast aus der Pubertät war. Fünfzehn Jahre, dachte sie jetzt, fast sechzehn, in denen viel passiert war und die sie auch gar nicht missen wollte, egal, was dann schließlich zu ihrer Trennung geführt und nicht nur mit ihren Berufen zu tun gehabt hatte. Der Bulle und die Psychologin, ein schöner Filmtitel eigentlich, dachte sie, bei dem jeder von vornherein weiß, dass es irgendwann schiefgehen wird.
    Aber wenigstens waren sie beide nicht im Streit auseinandergegangen. Dass Julia mehr oder weniger mit Jan-Ole gebrochen hatte, war allerdings ein Problem, sowohl für Merette als vor allem auch für Jan-Ole, und hatte dazu geführt, dass Merette selber jeden Kontakt auf das Notwendigste beschränkt hatte.
    Dennoch war Jan-Ole ganz sicher die Person, der sie nach wie vor am meisten vertraute – und gerade jetzt hätte sie seinen Rat und seine Hilfe gebraucht und vermisste ihn schmerzlich. Aber er war ja ausgerechnet jetzt in Dänemark!
    Merette war sich sicher, dass er trotz allem sofort kommen würde, wenn sie ihn darum bat, andererseits wollte sie sich auch beweisen, dass sie alleine klarkam. So wie sie es immer gekommen war.
    Die Hütte an der Bucht würde Jan-Ole gefallen, überlegte Merette, und aus einer spontanen Neugierde heraus, wie der versteckte Platz wohl aus der Nähe wirken würde, schlug sie den Weg über die flachen Felsen ein. Ihre Suchenach dem Friedhof konnte sie ohnehin vergessen, und die Idee, mit irgendjemandem von der Trauergesellschaft reden zu wollen, war vollkommen absurd gewesen. Das war eine Sache für die Polizei, und es half nichts, wenn sie selber sich in etwas einmischte, was ihre Möglichkeiten bei weitem überstieg. Sie würde morgen noch einmal versuchen, den Betreuer zu erreichen, mehr konnte sie nicht tun.
    Je näher Merette der Hütte kam, umso deutlicher wurde der Eindruck, dass hier schon lange niemand mehr gewesen war. Die Fenster waren mit Sperrholzplatten vernagelt, aus den Dachschindeln

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