Schwesterlein muss sterben
lebte, keinen verräterischen Tonfall mehr hatte. Aber der Alte schien ein ausgeprägtes Gespür für feine Nuancen zu haben – er lag richtig mit seiner Einschätzung. Wobei Merette sich nochnicht darüber im Klaren war, was das in der Konsequenz bedeutete. Sie schätzte ihn auf weit über achtzig, er konnte also sehr wohl als Kind noch den Krieg miterlebt haben, und damit war es eher unwahrscheinlich, dass er ihr irgendeine Sympathie entgegenbrachte.
»Stimmt«, antwortete sie. »Sie haben ein gutes Gehör. Aber das ist lange her, und ich fühl mich auch nicht mehr unbedingt als … Deutsche.«
Seine Antwort bestätigte ihre Befürchtungen.
»Eure Wehrmacht hat hier 1945 auf dem Rückzug alles niedergebrannt«, spuckte er ihr entgegen. »Ich hab genug von euch gesehen und gehört, du bist nicht willkommen hier.«
»Ich hab doch nur eine Frage gestellt«, sagte Merette leise und in einem Ton, der um Entschuldigung für etwas bitten sollte, was sie nicht zu verantworten hatte. »Darf ich nicht wenigstens wissen, wo ich vielleicht noch jemanden von den Trauergästen treffen kann?«
»Die Antwort ist nein. Wir haben viel zu oft ja zu euch gesagt, das war immer unser Problem. Und jetzt verschwinde, bevor ich …«
Sie sah, wie er die Hände zu Fäusten ballte und sich dann brüsk abwendete, um zu seinem Acker zurückzukehren.
»So wird sich nie etwas ändern!«, rief sie ihm hinterher und merkte, wie ihr Schuldgefühl in Wut umschlug. »Ich weiß, was nicht nur hier bei euch passiert ist, und ich will es ganz sicher nicht vergessen, aber ich bin auch nicht bereit, mich für die Greueltaten der Generation meiner Eltern und Großeltern verantwortlich machen zu lassen! Ich habe nichts zu tun mit diesem Scheißkrieg, ich war ja noch nicht mal geboren damals!«
Als sie in den Volvo stieg und die Zündung einschaltete, zitterten ihr die Knie. Das kurze Gespräch hatte sie mehr aufgewühlt, als sie sich eingestehen wollte.
Sie hatte nicht die leiseste Idee, wo sich die Trauergäste befinden mochten, vielleicht in einem Privathaus, dachte sie, aber dazu müsste sie irgendwo klingeln, und nach dem Erlebnis eben scheute sie davor zurück, sich noch mal eine Abfuhr zu holen.
Sie fuhr geradeaus durch den Ort und weiter auf die felsige Halbinsel hinaus, die ihr plötzlich vorkam wie eine Mondlandschaft – unwirtlich und fremd, fast bedrohlich. Dann endete der Teerbelag, und die Straße ging in einen Treckerweg über. Nachdem der Volvo zweimal hintereinander in ein Schlagloch gekracht war, lenkte Merette ihn auf die schmale Grasnarbe vor einer Felswand und schaltete den Motor aus.
Wenn sie sich nicht sehr täuschte, musste der alte Friedhof hier irgendwo zwischen den Felsen am Meer liegen. Sie war sich jetzt wieder sicher, dass sie mit Jan-Ole mal da gewesen war, als sie vor Ewigkeiten eine Hütte auf dem Campingplatz gemietet hatten und er im strömenden Regen mit ihr zum Angeln hinausgerudert war.
Natürlich hatte es keinen Sinn, jetzt auf gut Glück den Friedhof zu suchen, auf dem sie ohnehin niemanden mehr antreffen würde. Aber das Aufeinandertreffen mit dem alten Mann und seinem Hass auf alles Deutsche machte ihr immer noch zu schaffen, ein Spaziergang würde ihr guttun, um den Kopf wieder freizubekommen.
Merette folgte einem Trampelpfad, der zwischen Heidekraut und Ginsterbüschen in die Richtung führte, in der sie das Meer vermutete. Der Pfad endete an einem Sanddorngestrüpp,das jedes Weiterkommen unmöglich machte. Sie streifte die Schuhe ab und kletterte eine Rinne zwischen den Felsen hinauf, vielleicht würde sie von oben mehr sehen können, um sich zu orientieren. Der glatte Stein unter ihren bloßen Füßen fühlte sich warm und gut an. Wie von alleine fanden ihre Zehen immer wieder Halt, bis sie sich über die letzte Kante zog und auf drei Seiten das Meer vor ihr lag.
Das Felsplateau lief wie ein graues Band zur Spitze der Halbinsel hinaus, nichts deutete darauf hin, wo der Friedhof liegen könnte, vielleicht hatte ihre Erinnerung sie getäuscht. Der Platz konnte praktisch überall an der zerklüfteten Küstenlinie sein und war wahrscheinlich vom Boot aus viel leichter zu finden.
Merette zupfte ein paar vertrocknete Flechten von ihrer Hose, schwarzer Samt war sicher nicht das richtige Material für eine Klettertour. Die Bluse klebte ihr am Rücken und an der Brust. Selbst hier oben war nicht der leiseste Windhauch zu spüren, dafür waren die Mücken da und umschwirrten sie summend.
Am Ende der
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