Schwesterlein muss sterben
Haustür ins Schloss, ohne sich noch einmal umzudrehen. Auf dem Weg die Treppe hoch fragte sie sich, ob der Gärtner die ganze Geschichte vielleicht nur erfunden hatte, um einen Grund zu haben, sie noch mal anzubaggern. Aber vielleicht auch nicht, vielleicht hatte er tatsächlich die Wahrheit gesagt. Na und, dachte sie, Mikke kann tun und lassen, was er will. Trotzdemspürte sie einen Anflug von Eifersucht, der ihr gar nicht gefiel.
Zum ersten Mal kam ihr die leere Wohnung nicht wirklich als ihr Zuhause vor. Und sie sehnte sich nach jemandem, mit dem sie in der Küche sitzen und reden konnte. Irgendjemand, der einfach nur da war und ihr zuhören würde, wenn sie versuchte, ihre im Moment eher wirren Gedanken in Worte zu fassen.
Sie hatte Merette vom Torget zurück in den Strangehagen begleitet, Merette hatte heißen Ingwertee für sie gemacht und Julia dann wie selbstverständlich mit in ihr Arbeitszimmer genommen, wo sie die nächste halbe Stunde damit verbrachten, erst die Krankenhäuser durchzutelefonieren und dann bei der Polizei in der Allehelgens Gate anzurufen, um nach einer Marie Wahlstrom aus Oslo zu fragen. In den Krankenhäusern gab es niemanden, auf den Maries Beschreibung gepasst hätte, bei der Polizei hatten sie bereits die Vermisstenmeldung der Kollegen aus Oslo auf dem Tisch, aber noch keine weiteren Ergebnisse. Die Besatzungen der Streifenwagen waren informiert, ein Beamter aus der Abteilung für »vermisste Personen« würde sich eventuell bei Julia melden, falls es noch Fragen gäbe. Es hatte nicht den Anschein, als ob irgendjemand sonderlich besorgt wegen Maries Verschwinden war, es war ein Routinefall für die Polizei, mehr nicht.
Merette war ebenso wie Julia selbst mit der Situation überfordert. Die Überlegungen, die sie anstellten, führten allesamt ins Leere, unterm Strich lief es darauf hinaus, dass sie nichts tun konnten, als abzuwarten. Julia schmeckte das genauso wenig wie ihrer Mutter.
Aber als Merette dann damit anfing, dass womöglichJan-Ole der Einzige wäre, der noch eine sinnvolle Idee beisteuern könnte, war Julia aufgesprungen und sofort wieder in das alte Muster verfallen – sie hatte Merette vorgeworfen, nur nach einem Anlass zu suchen, Jan-Ole wieder nach Hause zu locken, und wie üblich erklärt, dass sie ihn auf keinen Fall sehen wollte, geschweige denn mit ihm reden.
Julia wusste selbst, dass ihre Haltung lächerlich war, aber das änderte nichts daran, dass sie darauf beharrte, ihre Position nicht aufzugeben.
»Du benimmst dich in diesem Punkt, als wäre Jan-Ole für dich die Unperson schlechthin«, hatte Merette gesagt. »Und ich habe keine Ahnung, was das eigentlich soll. Ich respektiere deine Meinung, weil du meine Tochter bist, aber ich finde nicht nur, dass du maßlos übertreibst, sondern auch, dass es längst schon an der Zeit gewesen wäre, das endlich mal zu klären.«
»He, Merette«, hatte Julia erwidert, »glaub mir, es ist okay für mich, so wie es ist. Lassen wir es dabei, ich bin noch nicht so weit. Im Übrigen macht dir doch der Fall mit deinem durchgeknallten Patienten schon genug zu schaffen! Also sieh vielleicht am besten zu, wie du das erst mal in den Griff kriegst, bevor du dir jetzt auch noch den Kopf über Jan-Ole und mich zerbrichst«, hatte sie unnötigerweise noch hinzugesetzt und es im selben Moment auch schon bedauert. Sie wusste ja, dass eben dieser Fall Merette an die Grenzen ihrer Entscheidungsfähigkeit führte. Ihr Nachsatz war also mehr als unfair gewesen. Sie hatten sich dann auch eher frustriert voneinander verabschiedet, und Julia war froh gewesen, alleine in ihre Wohnung zu kommen.
Jetzt allerdings war sie kurz davor, Merette noch mal anzurufen,um sich zu entschuldigen, brachte aber nicht die Energie auf, zum Handy zu greifen. Stattdessen starrte sie aus dem Fenster auf die gegenüberliegenden Dächer und wünschte sich, dass es plötzlich an der Tür klingeln und Marie draußen stehen würde, mit irgendeiner Geschichte, die auf einen Schlag alles erklärte. Gleichzeitig wusste sie, dass ihr Wunsch nicht in Erfüllung gehen würde.
Vielleicht wäre es doch richtig, mit Jan-Ole zu sprechen und über ihren eigenen Schatten zu springen, dachte sie kurz darauf, während sie zu den Umzugskartons hinüberging, die noch aufgestapelt in der Zimmerecke standen. Gleich im ersten Karton fand sie, was sie suchte. Hendrik hatte ihr den kleinen VW-Bus zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt, mit dem Hinweis, dass das Spielzeugauto eine
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