Schwesterlein muss sterben
versuchen wir es.«
Merette wollte ihn jetzt so schnell wie möglich loswerden, ohne unhöflich zu wirken. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, ihn hintergangen zu haben, weil sie nichts von dem angeblichen Geständnis erzählt hatte. Aber dann hätte sie auch über die versteckten Drohungen reden müssen und über ihre eigene Angst, und das wollte sie nicht. Sie wollte auf jeden Fall vermeiden, dass Frode sie womöglich für unprofessionell hielt.
Einen Moment ging es noch hin und her, wer von ihnen bezahlen würde, Frode wollte sie unbedingt einladen, schließlich ließ er sich darauf ein, dass sie die Rechnung teilten.
»Ich bleib noch ein paar Minuten hier sitzen«, sagte Merette, »mach dir keine Gedanken, es ist alles okay.«
Beim Verabschieden hielt er ihre Hand einen winzigen Augenblick zu lange.
Sie beobachtete ihn, wie er dann auf dem Weg zum Tresen einen der Staubsaugervertreter, der hinter seinen Kollegen stehend auf den Laptop starrte, scheinbar aus Versehen anrempelte, so dass er das Gleichgewicht verlor und gegen die anderen torkelte.
Auf die empörte Beschwerde hin reagierte Frode mit einer ironischen Verbeugung. »O Entschuldigung, ich hab Sie gar nicht gesehen. Wahrscheinlich weil Sie so still und zurückhaltend sind, dass man glatt denken könnte, Sie wären gar nicht da.«
Die Staubsaugervertreter starrten hinter ihm her, ohne noch etwas zu sagen.
Merette dachte, dass Frode ihr zunehmend besser gefiel. Vielleicht hätte sie ihm doch reinen Wein einschenkensollen, Frode schien jemand zu sein, dem man vertrauen konnte. Andererseits blieb es dabei, dass ihre Ängste nur sie etwas angingen.
Sie stand auf und ging zur Damentoilette. Als sie vor dem fleckigen Spiegel den Lippenstift nachzog, klingelte ihr Handy.
»Mama, ich muss dich dringend sprechen! Am besten gleich jetzt, wenn es geht. Wo bist du?«
Julias Stimme versetzte ihr einen Stich, augenblicklich spürte sie wieder die Angst.
»Ist was passiert?«
»Nein, nicht wirklich, aber … können wir uns sehen? Ich bin in der Stadt, nicht weit vom Torget entfernt.«
»Da bin ich auch.«
Sie verabredeten sich am Denkmal für die Seeleute, die nie vom Meer zurückgekehrt waren.
Wie nicht anders zu erwarten, war der Platz vollgestopft mit Touristen, aber das Stimmengewirr verblasste zu einem diffusen Hintergrundgeräusch, kaum dass Julia die ersten Sätze gesagt hatte.
»Jedenfalls stimmt es überhaupt nicht, als ich gedacht habe, Marie wäre beleidigt. Sie ist hierhergefahren, genau wie wir es geplant hatten. Sie hat den Zug genommen, der mittags hier war, sie hat ihre Mutter noch vom Bahnhof aus Oslo angerufen. Aber wo ist sie jetzt? Wieso war sie dann am Freitag nicht da? Und wieso meldet sie sich nicht? Glaubst du, dass irgendwas passiert ist? Jetzt sag schon, was soll ich machen? Ich muss sie doch suchen oder … irgendwas machen, alle Krankenhäuser durchtelefonieren …«
Julias Stimme überschlug sich. Merette zog Julias Kopf an ihre Schulter und strich ihr über die Haare.
»Ganz ruhig, Julia. Jetzt in Panik zu geraten hilft niemandem.«
Sie selbst versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen, um ihren Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Jetzt noch mal ganz von vorne. Ist es wirklich sicher, dass Marie in Oslo überhaupt abgefahren ist?«
»Sie saß schon im Zug, als sie mit ihrer Mutter telefoniert hat.«
»Und ihre Eltern können sie jetzt genauso wenig erreichen wie du?«
»Das Handy ist inzwischen ausgeschaltet. Verstehst du, das ist doch irgendwie noch komischer, erst ist ja wenigstens immer noch die Mailbox angesprungen, jetzt ist gar nichts mehr. Ich habe es gerade noch mal versucht. – Maries Mutter sagt, dass sie zur Polizei gehen will, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben.«
»Das erscheint mir sinnvoll.«
»Wenn ich wegen dem blöden Projekt nicht unbedingt in die Uni gewollt hätte, sondern zum Bahnhof gegangen wäre, um Marie abzuholen, dann …«
»Julia, du kannst nichts dazu. Hör auf, dir irgendwelche Vorwürfe zu machen.«
Ihr nächster Gedanke ließ Merette unwillkürlich zusammenzucken. »Die Frau aus der Wohnung unter dir hat doch von diesem Pärchen erzählt, das die Treppe runtergekommen sein soll, ein Typ, der ein betrunkenes Mädchen bei sich hatte! Und das war mittags, hat sie gesagt, also genau zu dem Zeitpunkt, an dem Marie …«
»Du meinst, das Mädchen war Marie? Aber darüber haben wir doch schon geredet, wer soll dann der Typ gewesen sein? Und wieso sollte Marie so
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