Schwesterlein muss sterben
»Notfall-Apotheke« an Bord hätte, die sie ganz sicher irgendwann mal gebrauchen könnte. Julia öffnete die Heckklappe und nahm genug Krümel aus der verschließbaren Plastiktüte, dass es für einen Joint reichte. Tabak und Blättchen hatte sie noch in ihrer Schreibtischschublade.
Julia kiffte nicht besonders häufig, und eigentlich nur in Gesellschaft, sie hatte auch Mühe, den Joint so zu drehen, dass er nicht wieder auseinanderfiel. Ganz kurz ging ihr der Gedanke durch den Kopf, ob Merette jetzt wohl in ihrem Arbeitszimmer saß und sich mit irgendwelchen Pillen zu beruhigen versuchte. Mit Erschrecken stellte sie fest, dass sie kaum etwas davon wusste, wie ihre Mutter mit irgendwelchen Problemen zurechtkam. Sie hatte ganz einfach nie darüber nachgedacht, Merette war ihr immer nur stark und unangreifbar erschienen. Umso unfairer war es, sie jetzt nicht ernst zu nehmen, wenn sie Jan-Ole ins Vertrauen ziehen wollte, weil ihr nichts anderes mehr einfiel.
Natürlich war sich Julia klar darüber, was ihr eigentliches Problem mit Jan-Ole war. Er war nicht ihr Vater, so einfach war das, aber genau das machte sie nicht nur ihm zum Vorwurf, sondern auch Merette. Dass sie Julia während ihrer gesamten Kindheit in dem Glauben gelassen hatten, beide ihre richtigen Eltern zu sein. Erst als Merette und Jan-Ole sich trennten, hatte Julia erfahren, dass ihr eigentlicher Vater irgendein Arzt in Hamburg war, in der Klinik, in der Merette gearbeitet hatte. Als sie Jan-Ole kennenlernte und sich Hals über Kopf in ihn verliebte, war sie bereits schwanger gewesen – und dann hatten sie einfach so entschieden, heile Welt zu spielen! Vielleicht war es auch genau das, die Welt war für Julia tatsächlich in Ordnung gewesen, sie hatte eine Kindheit gehabt, die ihr alle Liebe und Fürsorge gab, die sie sich nur wünschen konnte. Umso größer aber war der Schock, dass das alles auf einer Lüge aufgebaut war. Zumindest hatte Julia das so empfunden. Und in einem Alter, in dem ohnehin alles kompliziert war, hatte sie sich nicht anders zu helfen gewusst, als mit ohnmächtiger Wut zu reagieren – ihr richtiger Vater interessierte sich ja offensichtlich ohnehin nicht für sie, jetzt wollte sie auch von dem falschen Vater nichts mehr wissen.
Außerdem gab sie Jan-Ole immer noch die Schuld für die Trennung von Merette, auch wenn sie längst wusste, dass zu so einem Schritt immer zwei gehörten und Merette nicht ganz unschuldig an der Situation gewesen war. Dass Jan-Ole dann auch noch angefangen hatte, sich als »Künstler« zu verwirklichen, war ein weiterer Grund für Julia, ihn abzulehnen. Sie fand es einfach nur albern, was er da malte und dass er jedem Klischee entsprach, indem er sich als Einsiedler in seine Hütte zurückzog und angeblichganz für seine Kunst lebte. Es half auch nichts, dass Merette mehrmals schon versucht hatte, die Kunst als eine Gemeinsamkeit zwischen Julia und Jan-Ole darzustellen: »Ganz sicher hättet ihr euch da viel zu erzählen, und es wäre so eine Art neutrales Gebiet, auf dem ihr euch wieder nähern könnt.«
»Aber ich will mich nicht nähern. Und seine toten Rockmusiker interessieren mich nicht«, hatte Julia jedes Mal aufs Neue erklärt und war zunehmend genervt, wenn sie dann auch noch in der Stadt irgendwelche Plakate sah, weil Jan-Ole wieder mal eine Ausstellung in einer der kleinen Galerien entlang Bryggen hatte. Inzwischen gab es auch Postkarten von seinen »Dead Beats and Old Rockers« und sogar einen Kalender, die Touristen konnten jetzt also nicht nur die üblichen Bilder von fröhlichen kleinen Trollen verschicken, sondern auch von Jimi Hendrix, Janis Joplin, John Lennon und Amy Winehouse. Und eines der Schiffe der Hurtigruten-Linie erhielt gerade eine »Dead Beats-Lounge«, die in Kürze von Jan-Ole persönlich eingeweiht werden sollte.
Ärgerlich drückte Julia den Joint auf einer Untertasse aus. Sie nahm ihr Handy und wählte Maries Nummer, das Ergebnis war unverändert, Maries Handy war ausgeschaltet.
Julia rief die letzten eingegangen SMS auf und drückte die Rückruftaste.
»Hej!«, sagte Mikke. Seine Stimme klang überrascht, als hätte er nicht damit gerechnet, dass sie sich melden würde.
»Ich brauche jemanden zum Reden«, erklärte Julia, ohne sich lange mit irgendeiner Begrüßung aufzuhalten. »Können wir uns sehen? Am besten gleich!«
»Bist du zu Hause?«
»Ja, aber ich dachte eigentlich …«
»Passt doch«, unterbrach er sie. »Gib mir eine halbe Stunde, eher schaffe
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