Schwesterlein muss sterben
bleiben. Es ist vielleicht besser, keiner kann einschätzen, was wirklich los ist.«
»Ist schon okay. Ich wollte sowieso nicht weg. Erik kommt nachher, weil wir noch ein paar Sachen besprechen müssen.«
Julia fing unvermittelt an, wieder von ihrem Kunstprojekt zu erzählen. Merette hörte nur mit halbem Ohr zu, irgendetwas in Julias Tonfall machte sie stutzig, die Begeisterung, mit der Julia redete, schien ihr nicht echt zu sein.
Schließlich unterbrach Merette sie mitten im Satz: »Entschuldige, wenn ich noch mal auf das zurückkomme. Hast du eigentlich irgendetwas von deinem Mikke gehört?«
Die Antwort kam ohne Zögern. »Nein, aber das ist auch okay so. Es ist vorbei. Er interessiert mich nicht mehr.«
Im gleichen Moment war Merette sich absolut sicher, dass ihre Tochter sie gerade angelogen hatte. Die Antwort war zu schnell gekommen, als wäre Julia auf die Frage vorbereitet gewesen. Und vor allem hatte jede Empörung darüber gefehlt, dass Merette sich in ihr Privatleben einmischte!
Aber sie hatte keine Ahnung, wie sie darauf reagieren sollte. Sie bat Julia noch einmal, auf sich aufzupassen.
»Das gilt auch für dich, oder?«, erwiderte Julia. »Komm, Mama, mach dir keine Gedanken um mich. Alles wird gut.«
Merettes spontanen Vorschlag, ob sie vielleicht zusammenessen wollten, lehnte Julia mit einem leichten Stöhnen ab.
»Sag mal, du hörst ja gar nicht mehr zu! Ich habe doch gesagt, dass Erik nachher kommt!«
»Sorry, sei mir nicht böse«, sagte Merette leise.
»Bin ich nicht. Grüß Jan-Ole von mir.«
Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, blickte Jan-Ole sie fragend an. Merette zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nicht, ich habe kein gutes Gefühl, irgendwie ist das doch alles …«
Er trat einen Schritt auf sie zu und nahm sie in die Arme. Sie ließ es bereitwillig geschehen und wehrte auch dann seine Hand nicht ab, als er sie wie zufällig erst über ihren Rücken und dann über ihren Hintern gleiten ließ.
»Ich habe Hunger«, brummte Jan-Ole dicht an ihrem Ohr.
Es klang zweideutig, dachte Merette, war sich aber nicht sicher, ob es wirklich so gemeint war. Vielleicht war es auch ihre eigene Phantasie, die sie unwillkürlich schneller atmen ließ. Gleich darauf war der kurze Moment auch schon vorüber. Jan-Ole schob sie fast brüsk zurück und ging zum Kühlschrank. Er nahm eine Pizza aus dem Tiefkühlfach.
»›Tradizionale‹«, las er von der Packung ab, »Salami, Pilze, Käse, ist das okay für dich?«
»Mir reicht auch ein Brot und ein bisschen Käse.«
»Du musst essen«, erwiderte Jan-Ole, während er die Plastikfolie entfernte und die Pizza in die Mikrowelle schob. »In Dänemark war ich übrigens in einer Pizzeria, da hatten sie als Spezialität Pizza mit Pferdefleisch.«
»Und?«, frage Merette, ohne dass es sie wirklich interessiert hätte.
»Keine Ahnung«, grinste Jan-Ole und wirkte für einen Augenblick wie ein kleiner Junge, »ich hab lieber was anderes bestellt.«
»Hätte ich wahrscheinlich auch gemacht«, meinte Merette. Sie drehte sich zur Tür. »Ich geh mal schnell ins Badezimmer und mach mich ein bisschen frisch.«
Als sie zurückkam, hatte Jan-Ole die Pizza in schmale Dreiecke geschnitten und zusätzlich eine kleine Käseplatte für sie hergerichtet. Außerdem standen zwei Flaschen Bier auf dem Tisch, beide bereits geöffnet und so kalt, dass das Schwitzwasser am Glas herunterperlte.
Während sie aßen, redeten sie kaum mehr als ein paar belanglose Sätze miteinander, dann holte sich Jan-Ole eine Flasche Mineralwasser aus dem Kasten unter der Spüle.
Sie einigten sich darauf, noch einen Moment vorm Fernseher zu sitzen, Jan-Ole nahm wie selbstverständlich den Sessel, Merette machte es sich mit einer Decke auf dem Sofa bequem. Als Jan-Ole sich vorbeugte und nach der Tüte mit den Erdnüssen auf dem Couchtisch griff, sah Merette die Waffe, die er hinten im Hosenbund stecken hatte. Sie sagte nichts, sondern versuchte, sich auf den Film zu konzentrieren.
Jan-Ole gähnte mehrmals hinter vorgehaltener Hand, aus den Augenwinkeln sah Merette, wie er sich verstohlen die Schläfen massierte. Ein dumpfes Geräusch vom Fenster her ließ sie zusammenzucken. In einer einzigen fließenden Bewegung kam Jan-Ole aus dem Sessel hoch und griff nach seiner Waffe. Mit der freien Hand deutete er ihr an, sich nicht vom Platz zu rühren, während er sich an der Wand entlang zum Fenster schob.
Merette spürte, wie ihr das Adrenalin durch den Körperschoss. Sie reagierte,
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