Schwestern der Angst - Roman
warf das Kleid auf den Stuhl, zog meine Hose über die Hüfte und den Pullover aus Kaschmir an und trat aus der Kabine. Die Verkäuferin hielt den weißen Strumpf hoch wie einen Nuttenstiefel, und wie aus Milch floss er in den Karton, aus dem er zuvor herausgezogen geworden war, und wurde von knisterndem Seidenpapier aufgesaugt. Die Verkäuferin warf die Augenbrauen fragend hoch und schien an meinem Gesicht abzulesen, dass ich mich gegen das Kleid entschieden hatte.
Ich bedankte mich für die Beratung. Sie nahm meinen Dank freundlich zur Kenntnis und sagte seufzend: „Dieses Kleid hat kein Glück. Es bleibt liegen. Viele probieren es, aber keiner nimmt es.“
Erstaunt horchte ich auf, und als mein Blick auf das Kleid fiel, so achtlos hingeworfen, wie es auf dem Stuhl lag, sitzengelassene Hülle, tat es mir plötzlich unendlich leid. Ich wollte nicht übrig bleiben, ich verzehrte mich ganz vor Sehnsucht nach Erlösung, nach Aufnahme in die Lebensgemeinschaft mit Marie. Ich war das Kleid, das Marie passen sollte.
Die Verkäuferin nahm das Kleid an den Schultern hoch, schüttelte es in seine Form zurück und fädelte es auf den Bügel. Erst gestern, sagte sie noch und hängte es zurück auf die Stange, sei es probiert worden, von einer österreichischen Dame in Begleitung eines wählerischen Herrn. Die Dame hatte einen perfekten Mund, der Mann hatte einen Bart, ein schönes Paar. Ich drückte die Handtasche an den Leib. Ich war auf Maries Fährte. Die Information genügte mir und ich entschlüpfte dankbar dem Geschäft.
Ich liebte Zeichen. Wo es keine Zeichen gab, bildete ich mir Zeichen ein. Ein leeres Blatt war nicht schlicht ein leeres Blatt, es fehlt etwas. Aber was? Nichts fehlte. Alles war aufgeschrieben, weil alles möglich war, wenn nichts davon da stand. Die Bäume mit all den Blättern, unbeschriftet, aber grün und raschelnd. Jedes Blatt die Menge unendlicher Möglichkeit verdorrend und wieder hervorbringend. Das war das Zeichen der Wiederkehr.
Ich kannte Damen und Herren, die sich wochenlang darauf freuen, einander für einen Augenblick lang zu sehen, und dann begann die Langeweile und sie wünschten nichts anderes, als so weit wie möglich voneinander entfernt zu sein, um in Sehnsucht zu leben und aufeinander erneut zuzustreben.
Auf der Place, wo ich mich nach dem Besuch im Brautladen ausruhte, zeigte allein die Farbe meines Weins, dass es sich um einen teuren, dichten, fast schwarzen Blutstropfen aus französischer Rebe handelte. Der Preis dafür war hoch. Eine Dame winkte. Als ich nicht reagierte, rief sie mich. Als sie erkannte, dass sie mich verwechselt hatte, wollte sie sich erkenntlich zeigen. Sie wollte mich einladen auf meinen Wein, aber mein Französisch war zu schwach für ihre Erklärungen, und das kränkte mich. Ich sagte entschlossen: „Non!“
Ich studierte die Speisekarte und zupfte an meinen Haarspitzen. Sie lockten sich. Ich schloss die Augen und genoss die Sonne. Koffer rollten über das teure Pflaster wie Kugeln im Roulette. Ein kleines Täubchen, nicht verfettet und auch nicht schmutzig, ernährte sich von Baguettebröseln zu meinen Füßen. Ich behandelte alle Tauben gleich und trat überall nach ihnen, aber diesmal machte ich eine Ausnahme. Ich beobachtete das pickende Tier. Ich war der Taube egal und die Taube war mir egal, so begründete ich das aufflammende Glücksgefühl: Wir waren einander gleich gültig. Mich wärmt dieser Gedanke auch in Bezug auf Marie. Ich wollte nicht mehr um Aufmerksamkeit buhlen und gegen eine Taube kämpfen. Alles wäre gleich gültig, wäre ich Marie gleich gültig. Die kleine Taube lehrte mich Gelassenheit. Sie pickte neben meinem Fuß die ihr zugeworfenen Baguettebrösel auf. Ich war bereit, mit ihr zu teilen, ohne mich zu zerfleischen. Ich genoss das Baguette, die Taube genoss die Brösel. In meinem Herzen spürte ich Stiche der Liebe, als wollten Pfeile aus meinem Herzen hinaus auf die Taube zuschnellen. Sie pickte, während ich mit mir haderte, ob ich sie mit meiner Liebe spicken sollte. Ein Leben lang war sie hier auf der Île-de-France herumgeflogen und flatterte nun über Dachdecker hinweg. Diese Taube verband mich mit Paris. Sie pickte von meinem Baguette die Brösel auf und würde die Brösel dann irgendwo verdaut zu Boden fallen lassen, und vielleicht würde ein Blümlein daraus wachsen und womöglich würde Marie es eines Tages pflücken und an ihr Herz drücken.
Eine unersättliche Gier nach Freude ergriff mich, ein Zutrauen in
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