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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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die Lebensfunktionen wieder einsetzen und das Atmen wie üblich vonstatten geht. Die alte Frau stand auf der Straße, breitbeinig, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Kein Haar war ihr gekrümmt. Der Wagen war ein paar Dezimeter vor dem fragilen Körper zum Stillstand gekommen. Die alte Frau protestierte mit erhobener Faust gegen die motorisierte Automobilität. Unerschrocken rief sie dem Autofahrer entgegen, dass es Gesetz sei, vor Schutzwegen das Tempo zu drosseln. Das weiße Gesicht, die dunkelrot geschminkten Lippen verbanden diese vom Körper eingekerkerte kämpferische Seele mit dem Geist eines Subjekts lebenslänglich gelebter Revolte. Die Verbindung aus Beharrlichkeit und Eleganz schwor ich mir still zu erinnern, sollte ich dieses Alter erreichen, dann würde ich mich ebenso eher überfahren lassen, als aus Feigheit den anderen den Vortritt zu lassen, der ihnen nicht zustünde. Sie war mir Vorbild und blieb es bis heute.
    Mit Leichtigkeit und Elastizität schritt die Alte mit ihrem Stock den Hügel hinan, den Weg in die privaten Gefilde hier residierender Menschen. Hinter einem vorhanglosen Fenster stand ein Mann in weißem T-Shirt mit vor der Brust verschränkten Armen, auf die Alte heruntergaffend. Welch herzloser Blick. Woran erkannte ich, dass es sich um den Sohn handelte? Die Alte ging, plötzlich gekrümmter, an einem vor dem Haus geparkten schnittigen Wagen vorbei, der ihr den Weg verstellte. Sie wurde immer buckliger und der Blick des Mannes immer mißbilligender, bis er seine Lippen schürzte und über den Balkon seine Spucke schnalzte. Hier war ein Familiendesaster zu analysieren. Ich suchte Spuren, fand kleine Späne von Bleistiftspitzern.
    Ich lief zum Bahnhof zurück. Der grelle Pfiff des Bahnhofsvorstehers erklang. Die Passanten hatten sich in Voyageure verwandelt, sie schauten und riefen, und als der Zug davonrollte, winkten sie mir auffordernd, nachzulaufen und aufzuspringen. Ich nahm die Beine in die Hand, als ich das Grinsen sah, und erkannte, dass sie meine aussichtslosen Bemühungen nicht ernst nahmen. Das Achselzucken. Die Augen. Die Zungen. Was für ein Zug war das überhaupt? Ich keuchte aus und sah ihm nach.
    Ich war wieder beim Ausgangspunkt angekommen, ich fühlte mich erwartet und angesichts des angekündigten Regens geradezu gerettet, bevor ich zuschlagen würde.
    Die Theke war wandlang, drei Männer standen daran wie aufgefädelt, tranken Bier und rauchten Gauloises. Alle drei waren unrasiert, etwa fünfzig und fertig, wie man gemeinhin sagt, wenn keine Aufbrüche, höchstens Abbrüche zu erwarten sind. Der Kellner, ein gepflegter Mann, erfasste mich mit fragendem Blick. Ich sagte laut und klar: „Deux cafés, s’il vous plaît.“ Da ich allein war, war er für einen Moment irritiert, er hob die Augenbrauen und fragte mich, ob ich die Kaffees in einer Tasse wolle. Ihn mich mit Mademoiselle ansprechen hörend, zögerte ich mit der Antwort.
    Aus dem Radio drang die Stimme eines schnellen Sprechers. Ich verstand sein vielfach wiederholtes „l’éducation“ als politisches Thema der Saison. Das Heulen der Kaffeemühle, das Klick-Klack beim Abmontieren und Befüllen des Filters und das Fauchen des aus der Düse zischenden Heißwassers erzeugten in mir das Gefühl von Geborgenheit, da jemand etwas für mich zubereitete. Wie eine Mutter war der Kellner. Ich fühlte mich wohl und fragte, ob ich ein Zimmer mieten könne. Er wollte zuerst nicht mit dem Schlüssel herausrücken, die Zimmer seien nicht mehr auf dem neuesten Stand, sagte er. Dann zog er doch das Meldebuch unter dem Telefonbuch hervor. In schnörkelloser Schrift setzte er meinen Namen auf eine frische Seite.
    Da öffnete sich die Tür mit der Aufschrift „privée“ und eine noch junge Frau erschien in der Tür. Der Kellner blickte über den Brillenrand, legte den Stift hin, schlug das Buch zu und sagte: „Meine Tochter.“
    Ich beneidete sie um ihren Vater. Er kochte Kaffee, servierte mir den doppelten Espresso in einzelnen Tassen und meinte noch dazu, es möge mir munden. Die junge Dame näherte sich und behauptete scheu, sie sehe mir an, was mir fehle.
    „Nämlich?“
    „Ein Zimmer mit Blick auf die Kathedrale Notre-Dame!“
    „Notre-Dame steht aber in Paris und wir sind nicht in Paris“, erwog ich.
    „Alle Gäste, die hier im Hotel wohnen, möchten mit Blick auf Notre-Dame wohnen“, entgegnete die junge Frau. „Ich werde mich bemühen, Ihnen ein Zimmer mit Blick auf die Kathedrale zu geben.“
    Der Kellner

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