Schwestern der Angst - Roman
meine Unternehmung, Marie heimzuholen, als ich das Bahnhofsgebäude im Süden der Stadt betrat, von wo ich weiter fuhr nach Saint-Michel-sur-Orge. Als ich ankam, die entzückende kleine Straße betrat, war ich sofort an französisierte Drehorte in Filmen mit Louis de Funès erinnert. Es gab hier Autos, jedoch keinen Autolärm, als wäre die Tonspur zum Bild gerissen, nur Vogelgezwitscher und das Knattern des Mopeds des nun mit Lederhelm um die Ecke biegenden Gendarmen. Leider war ich nicht in einem Film, denn mir flog beim Betrachten des Gendarmen etwas Spitzes ins Auge. Die Wirklichkeit drückte sich physisch aus, oder ein, wenn man so will. Ich schloss das Lid und presste den Fremdkörper mit der Fingerkuppe in den Augenwinkel. Ein Holzsplitter. Ein Sägespan? Er haftete auf meiner Fingerkuppe. Der nächste Windstoß wehte weitere gerüschte Späne mit rotem Lackrand durch die Luft. Dazu war das Sägen, Kratzen und Schleifen zahnloser, aber dafür zahlreicher scharfer Messerchen, die Holz sägten, kratzten, schliffen, hörbar.
Hinter dem Brückenpfeiler tauchte ein Hotel auf. Es war viel schäbiger noch als das Hotel, in dem ich in Paris residierte. Nebelschwaden hoben sich aus dem feuchten Straßengraben und umschweiften es. Geisterhaft schwebte das Hotel vor mir. Die feuchte Luft roch nach Wald, Pilzen, Hölzern und Moschus. Eine Distel mitten auf dem Gehsteig, eine École maternelle am Rand der Hauptstraße. Meine Unkonzentriertheit hätte mich fast von der Absicht abgebracht, Marie aufzustöbern. Es gab so viele interessante Dinge auf der Welt. Ich hob das Kinn und sah hinauf zum leuchtenden Hotel. Eine neben mir hergehende Passantin meinte, das Hotel rieche weder übel noch gut, es sei ein Straßenhotel, wie man es aus allen Ländern kenne. Im Grunde hätte ich sie als Marie-Ersatz akzeptieren können. Sie stieg aber auf mein Lächeln nicht ein. Wer ist wessen? Konnte ein Hotel duften? Dieses Hotel duftete, oder es duftete um das Hotel herum.
Ich kam den Mauern näher und roch das Ziegelwerk, wie es mich wohlriechend lockte. Da zuckte ich vor dem Rest eines auf dem Asphalt klebenden Taubenflügels zusammen und schreckte zurück. Was bedeutete der Taubenflügel? Ich hockte mich hin. Verkrustetes Blut. Splitter am Flugknochen. Im Luftzug sich neigender Flaum der verdreckten Daunen. Eine Deckfeder ragte auf und vibrierte im Wind. Ich zupfte am Flügel des Vögelchens und zog den Kiel aus dem Knochen. Verworfen lag unten im Graben ein Stöckelschuh ohne Stöckel. Oben auf dem Bahndamm donnerte ein Zug dahin. Ich war traurig über das Werden und Vergehen allen Lebens am Rande, des Inmitten, des unregelmäßig Angeordneten. Selbst Kanten, das den Beton Spaltende, das im Graben Liegende rührten mich und das Tempo, mit dem ich auf etwas zuschritt, das mir erst im Nachdenken einleuchtende „Erst“, als ich so entlanggehend erst nach mehreren Kilometern begriff, dass ich mich auch von allem entfernen könnte und den Ort sofort verlassen.
Unter der Brücke hindurch setzte ich meinen Weg in die hügelabwärts sich erstreckende Reihenhaus-Siedlung fort, wo ich nach Marie weitersuchen wollte. Trotz der gerasterten Ordnung dachte ich an den Heuhaufen, den ich nach der sprichwörtlichen Stecknadel durchsuchte. Ich ließ mich von der untergehenden Sonne wärmen. Am Ende der Straße blinkte ein Licht. Ein Paar flackerte schemenhaft. Die Sonne ging im Rücken unter.
Als ich den zwei schwarzflammigen Silhouetten näherkam, blitzte das Reflexlicht der Katzenaugen an den Taschen. Unwillkürlich fiel mir ein Tag im Gebirge ein, wo die Sonne derartig das Schneeweiß bestrahlte, dass im Kontrast dazu der dunkelblaue Himmel blauschwarz erschien, wo die metallischen Stöcke der Skifahrer aufblitzten wie fliegende Fische. Jungpappeln neigten sich einander zu. Wie lange war ich schon unterwegs, wie lange schon hundemüde? Aus welchen Richtungen kam der zweiböige Wind?
Ich wollte mich auf einer Bank ausruhen, doch eine alte Frau zog mein Augenmerk auf sich. Sie wartete am Straßenrand und schien unentschlossen. Ein Auto brauste heran, und erst, als es nahe war, gab sich die alte Frau Luft schnappend und sich ein Herz fassend einen Ruck und machte einen zu allem entschlossenen Schritt auf die Straße. Die Bremsen quietschten. Ich schoss hoch. Ein Schrei ging durch die Luft. Gleich darauf war es totenstill, doch dies ist eine Lüge. Die Natur lärmt immer weiter, auch nach Unfällen, nur das Gehirn stellt sich tot vor Schreck, bis
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