Schwestern der Angst - Roman
Detail statt. Aber wie bin ich, wenn ich sie wahrnehme? Wie produziere ich Wirklichkeit und wie viel davon ist gut? Geh ich in die Irre?
Der Blick fiel auf Lippen. Sie waren mit Kontrastrand ins Gesicht geschrieben, die Lider auf Halbmast, die Mundwinkel wurden spitz und schoben sich in die Wangenpolster, weiße Zähne erstrahlten, ein rosa Zünglein schnellte vor und formulierte mit. „Moi non plus.“
Mein Französisch war gut genug, um mich ermutigt aus der Irre zu führen und eine kühle Abrechnung zu unterlassen, um meine Aggression auszuagieren und eines Tages mein Leben wirklich zu befreien. Ich fragte Madame, wie ich auf kürzestem Wege nach Saint-Michel-sur-Orge käme. Ich war noch nie in Paris gewesen, doch das U-Bahn-System war logisch aufgebaut und auf einen Blick zu dechiffrieren. Der Bahnhof am Montparnasse war nicht mehr weit.
Dumpfe Geräusche, Gerüche nach Eisen, Staub, Kanal und Äther mischten sich mit dem Kaugummigeruch des über mir sich öffnenden Mundes und einem neuen Geruch nach Brand und Gas. Andere Passagiere stießen ebenfalls die Worte aus: „Qu’est-ce que c’est?“ Ich und alle hoben rümpfend die Nase in die Luft und schnupperten beunruhigt, einander fragend, woher der Brandgeruch komme. Die Seine blitzte durch die U-Bahn-Tunnel-Schlitze. Zwei flämisch redende Männer schienen nicht beunruhigt und sprachen über das Gemälde „Anbetung des Lamm Gottes“ von van Eyck. Dann aber schnupperten auch die Flamen. Die Nasenflügel fielen ein, legten sich zusammen, um prüfend mit verengten Nasenlöchern den Brandgeruch zu orten.
Aus dem Loch in der Brust des van Eyck’schen Lammes schießt Blut in einem dünnen Strahl heraus und fließt in einen Kelch. Das Lamm steht auf seinen dünnen Beinchen auf dem Altar im Dom zu Gent und schaut den Betrachter wie teilnahmslos an, verblutend und angebetet werdend, in einer Haltung der Beherrschung. Es hat alle Schuld auf sich genommen und erlöst den Betrachter sogar von seinem Voyeurismus. Mitleiderregend ist das Lamm, so unschuldig und so tapfer, sich zu opfern. Aber wieso darf ein Lamm angebetet werden und ein goldenes Kalb nicht? Es sind doch beides Tierkinder. Das Gold wurde vom Tier getrennt und auf den Kirchenfürsten gehängt, und das Kalb wurde durch ein Lamm ersetzt. Der Pelikan als Christussymbol benimmt sich wie eine Mutter, die sich die Brust aufhackt, um mit ihrem Blute die eigene Brut zu füttern, eine Form der Aufopferung, die ich vorbildlich nenne, anbetungswürdig auch in einer Stunde der Krise, wenn wir in der U-Bahn eingesperrt blieben.
Ich vernahm schwach den Refrain eines Beatles-Songs aus den Kopfhörern eines Rollstuhlfahrers, der ruhig blieb, nur den Sound aufdrehte, während Kinder zu weinen begannen und die Augen der Dame im Tschador hin und her hasteten wie bei einem panischen Reh: „Get back, get back, get back to where you once belonged.“ Ich legte beruhigend die Hand auf ihre Schulter und hielt den Blick, nickte ermunternd zu. Die Falten um ihre Augen zeigten, dass sie lächelte.
Als später für Sekunden der Eiffelturm im Lichtschlitz des U-Bahn-Tunnels aufblitzte, befiel mich ein Hochgefühl und ich hätte ewig mit der U-Bahn fahren können. Bei der nächsten Station aber mussten wir alle aussteigen. Das Gerücht, dass ein Anschlag und eine Explosion den Grund für den Brandgeruch dargestellt habe, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Zu Panik bestehe kein Anlass, tönte es aus dem Lautsprecher.
Menschliches Versagen ist oft auf die unmenschliche Gesellschaft zurückzuführen und letztlich als Systemfrage zu behandeln. Die Menschlichkeit der Menschheit ist, systemisch gesehen, eine Frage der Lohnhöhe, sagen manche. Ich neigte dazu, an die Liebe zu glauben, die nicht von der Lohnhöhe abhängig ist. Marie würde das bestätigen, denn ich liebte sie nicht wegen ihres Geldes. Ich liebte sie wegen Paul.
Andenmusik empfing mich. Diese kleinen rhythmisch hin und her wippenden, ponchobekleideten Männer, die panflöteten, während teigig wirkende, in dunkle Anzüge und Mäntel gekleidete Wachstumsmanager vorbeischritten, gab es überall auf der Welt. Auf einer weißen, noch zu vermietenden Werbefläche im U-Bahn-Gedärm las ich die Aufschrift eines Banners: „The Freedom of Speech.“ Darunter stand die Telefonnummer, unter der man sich die Fläche pachten konnte.
Es regnete. Und ich war glücklich, weil es regnete. Die Hexe mit dem Ginsterhaar war eine gute Fee. Sie hatte mir den Schirm überlassen. Nun
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