Schwestern der Nacht
gut, weshalb. Wer Ichiro Honda eine so ausgeklügelte Falle stellen konnte, war bestimmt auch in der Lage, spurlos von der Erdoberfläche zu verschwinden, nachdem das Komplott durchgeführt war. Falls es ihnen nicht gelang, Hondas Unschuld zu beweisen, falls er hingerichtet wurde, wäre der wirkliche Täter dann zufrieden? Oder würde er oder sie — und es schien sich um eine Sie zu handeln — sich bis zu diesem Zeitpunkt ebenfalls das Leben genommen haben?
Der Alte hob den Kopf und sah Shinji an. »Ich möchte, daß Sie zu der Polizeiwache gehen, die Keiko Obanas Selbstmord bearbeitet hat«, sagte er mit um Verzeihung bittendem Unterton.
3
Die Polizeiwache M war in einem schmutzig grauen Gebäude untergebracht. Shinji teilte dem Polizeibeamten am Empfangsschalter sein Anliegen mit und mußte eine Weile auf einer nackten Holzbank in der Eingangshalle warten. Der Chef der Abteilung, der die Ermittlungen im Keiko-Obana-Fall geleitet hatte, benachrichtigte gerade die Angehörigen einer im Schlossgraben ertrunkenen Person, die man am Morgen entdeckt hatte. Schließlich kam er aus seinem Büro, eine matronenhafte Frau stützend, deren Augen vom Weinen gerötet waren. Sie trug ein winzigkleines Baby auf dem Rücken, die arme Seele; die Hinterbliebenen haben immer am meisten zu leiden, dachte Shinji.
Der Sektionschef begrüßte ihn liebenswürdig und führte ihn in sein Büro. Als er jedoch hörte, daß Shinji wegen Keiko Obana gekommen war, legte er sein Gesicht in tiefe Falten und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Es stimmt, wir haben den Selbstmord von Keiko Obana bearbeitet, einer Schreibkraft bei der K-Lebensversicherung. Offiziell wurde als Motiv für den Selbstmord ein neurotischer Schub infolge einer Berufskrankheit angegeben.« Er mied Shinjis Blick, während er sprach; seine Augen waren einmal auf die Wand, einmal auf einen Fleck hinter Shinjis Schulter gerichtet, als würden seine Worte einem großen Publikum gelten. Shinji schätzte ihn als einen ehrlichen Mann ein, der nicht gerne log.
»Ja, das ist wirklich sehr interessant, aber abgesehen von der offiziellen Version, was können Sie mir sonst noch dazu sagen — ganz im Vertrauen natürlich?« Der Sektionschef kämpfte einen Moment lang mit sich und beschloß dann, mit der Wahrheit herauszurücken.
»Nun ja, eines habe ich damals nicht öffentlich bekanntgegeben, und zwar ausschließlich auf eigene Verantwortung. Keiko Obana war zum Zeitpunkt ihres Todes im sechsten Monat schwanger. Ich habe das der Presse gegenüber nicht erwähnt, Sie verstehen hoffentlich, warum.«
»Haben Sie es sonst jemandem erzählt?«
»Nur ihrer Schwester, als sie die Leiche in Empfang nahm.« »Wußte sie auch, wer der Vater des Kindes war?«
»Anscheinend irgendein Kerl, den die Verstorbene in einem Nachtcafé oder einem ähnlichen Lokal kennengelernt hatte.«
Das Ganze lag allerdings schon so weit zurück, daß sich der Polizeibeamte nicht weiter über dieses Thema auslassen wollte, ohne seine Akten zu konsultieren. Also entschuldigte er sich und ging zu dem Aktenschrank in einer Ecke des Raumes hinüber.
Shinji betrachtete seine Schuhspitzen und dachte: >Keiko Obana erwartete also auch ein Kind von Honda.< Was natürlich ein angemessenes Motiv für den Rachefeldzug ihrer Schwester war. Wer würde so etwas schon ertragen? Und wie viele mehr würden es niemals verzeihen?
Er stellte sich die Schwester vor, wie sie hier vor zwei Jahren in diesem Raum saß, vielleicht in ebendiesem Stuhl, und von der Schwangerschaft ihrer toten Schwester erfuhr. Hatte sie sich in genau dem Augenblick zur Rache entschlossen? Nach so vielen schlaflosen Nächten, so vielen endlosen Tagen, konnte sie da je wieder Frieden finden? Vielleicht bringt ja der Haß die äußerste Beharrlichkeit des menschlichen Willens hervor.
Der Polizist kehrte mit einer Akte unterm Arm an sein Pult zurück. Shinji beeilte sich, ihm die eine Frage zu stellen, die ihm am meisten am Herzen lag:
»Hatte die Schwester einen Leberfleck rechts unten an der Nase?«
»0 ja, einen großen Leberfleck — ich kann mich ganz genau daran erinnern, wenn ich auch nicht mehr weiß, auf welcher Seite. «
»Traf es sie sehr hart, daß ihre Schwester schwanger war?«
»So hart jedenfalls, daß ich Mitleid mit ihr bekam und mir halb wünschte, ich hätte ihr nichts davon erzählt. Und ich bin es durchaus gewöhnt, den Angehörigen von Selbstmordopfern die schlechte Nachricht zu überbringen und ihren Kummer
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