Schwestern der Nacht
weiß ich es.« Ohne eine weitere Verabschiedung wandte er sich von Shinji ab und eilte mit langen Schritten durch den Korridor von dannen.
Stimmte das? Stammte der Samen in Kimiko Tsudas Körper möglicherweise doch nicht von Yamazaki? War seine Theorie von der Frau mit dem Leberfleck falsch, die sich Proben von Samen und Blut der Gruppe AB rh-negativ beschafft hatte? Seine zu scheinbar 99 Prozent sichere Mutmaßung drohte zu kippen. Aber wozu hatte die Frau mit dem Leberfleck dann Yamazakis Samen gebraucht?
Shinji merkte, daß er immer noch im dunkeln tappte.
2
Shinji war mit seinem Bericht fertig, doch der Alte hielt seine Augen mit den schweren Lidern gesenkt. Er blickte auf den Papierfetzen hinab, den die Masseuse aus dem Türkischen Bad Tanikawa gegeben hatte, und tippte abwesend mit dem Zeigefinger dagegen. Schwieg er, weil sich der Fall gemäß seiner Erwartungen entwickelt hatte? Erstaunte es ihn — oder war er einfach nur mit sich zufrieden? Dennoch — hatte seine Theorie nicht immer noch ein riesiges Loch? Yamazakis Einwand vom sekretorischen und nichtsekretorischen Typus nämlich?
»Die Tatsache, daß Yamazaki zum nicht-sekretorischen Typus gehört und seine Körperflüssigkeiten Blutgruppe 0 aufweisen, spielt überhaupt keine Rolle«, bemerkte Hatanaka endlich. »Das beweist nur, daß die Frau mit dem Muttermal seinen Samen benutzt hat.«
»Warum das?«
»Wenn Sie sich die Mühe machen, das Prozessprotokoll noch einmal zu lesen, werden Sie feststellen, daß der Samen in Kimiko Tsudas Körper als 0-Typ bestimmt wurde. Ein Gesuch der Staatsanwaltschaft, ihn ein zweites Mal auf AB hin zu untersuchen, wurde vom Richter abgelehnt. Es lag zum Teil an diesem strittigen Punkt, daß Honda von dem Mord an Kimiko Tsuda freigesprochen wurde. Jedenfalls liegt für mich jetzt auf der Hand, daß die ursprüngliche Analyse richtig und der Samen in der Leiche tatsächlich vom Typ 0 war.«
»Aber solche Feststellungen basieren doch auf wissenschaftlichen Fakten, nicht auf bloßen Vermutungen.«
»Keineswegs. Expertenaussagen sind oft genauso subjektiv wie Laienaussagen. Zwei verschiedene Professoren geben sehr wahrscheinlich zwei vollkommen verschiedene Standpunkte wieder.«
»Sie sind also überzeugt, daß die Frau mit dem Leberfleck Ichiro Honda in die Falle gelockt hat?«
»Besteht daran auch nur der geringste Zweifel? Ich bin absolut sicher, daß sich diese Dame den Samen besorgt und in den Frauenleichen hinterlassen hat. Darüber hinaus kann ich beweisen, daß die Verbrechen schon vor längerer Zeit vorsätzlich geplant worden sind. Ich war vergangene Nacht in der Boi Bar in Shinjuku ...«
Hatanakas Augen waren wie Vorhänge; er machte eine Pause, um eine Zigarre anzustecken. »Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. In einer Sommernacht vor zwei Jahren hielt sich Ichiro Honda in ebendieser Bar auf und sang Zigeunerleben . Ein Mädchen folgte seinem Beispiel und stimmte ein. Das Ganze endete schließlich mit einer gemeinsam verbrachten Nacht.«
»Wo sind sie denn hingegangen? In ein Gasthaus?«
»Wahrscheinlich, aber das ist unwichtig.«
Shinjis Erregung wuchs.
»Es gibt noch eine Geschichte, die ich Ihnen erzählen will. Sechs Monate später nahm sich eine Schreibkraft das Leben; sie stürzte sich vom Fenster eines Bürogebäudes.« Er saugte kraftvoll an seiner Zigarre und blies eine Rauchwolke gegen die Zimmerdecke. »Zwischen beiden Geschichten besteht ein Zusammenhang, denn es handelt sich in beiden Fällen um dasselbe Mädchen: Keiko Obana, 19 Jahre alt.«
»War Honda der Grund für ihren Selbstmord?«
»Nein. Sie litt aufgrund einer Berufskrankheit unter einer Neurose. «
Obwohl Shinji aufmerksam zuhörte, dachte er statt an die Schreibkraft an seine frühere Freundin, die Büchereiangestellte. Sie hatte schließlich ebenfalls mit Ichiro Honda geschlafen, oder etwa nicht? Er hegte augenblicklich recht bittere Gefühle seinem Klienten gegenüber.
Irgendwo in weiter Ferne hörte er den Alten fortfahren: »Keiko Obanas einzige Angehörige war eine wesentlich ältere Schwester.« Hatanakas Stimme klang wie schwaches Bienengesumm in einem sommerlichen Garten. »Als Honda mir gestern von Keiko Obana erzählte, zog es mich plötzlich in diese Bar. Ich ging also hin und ließ mich in der Nische im ersten Stock nieder, wo das Mädchen laut Honda gesessen hatte. Nach kurzer Zeit vernahm ich von unten die sentimentalen Klänge einer Geige, genau wie Honda sie mir beschrieben hatte. Ich
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