Schwestern der Nacht
mitanzusehen. «
Shinji hätte beinahe bemerkt, daß die Schwester eine wundervolle Frau gewesen sein müßte, wenn sie die Sympathie des Sektionschefs gewonnen hatte, ließ es jedoch wohlweislich bleiben. Er sah die Akte rasch durch, dankte dem Mann und verließ das Gebäude. Er fragte sich, ob er diese neue Wendung dem Gericht mitteilen konnte; es würde sicher ein schlechtes Licht auf den Polizisten werfen, daß er aus purer Güte die Schwangerschaft der Toten verheimlicht hatte.
Die Leben von Männern und Frauen sind wie Zahnräder fassen die Zacken nicht mehr mehr haargenau, werden nicht nur die Rädchen in unmittelbarer Nähe, sondern auch die beschädigt, die keinen direkten Kontakt zur Quelle des Fehlers haben. So würden jetzt wahrscheinlich die klitzekleinsten Heimlichkeiten menschlicher Individuen vor den Augen der Öffentlichkeit ausgebreitet werden. Das galt nicht nur für den Polizisten — auch für den Kosmetikverkäufer und den Assistenzarzt.
Er rief im Büro an und berichtete über das Ergebnis seines Besuchs auf der Polizeiwache, doch der Alte schien nicht im mindesten überrascht. »Ach wirklich?« war seine ganze Reaktion.
»Na, ich werde mal das Apartment in Omori unter die Lupe nehmen«, verkündete Shinji und hängte ein. Er mußte alles daransetzen, Keiko Obanas Schwester so schnell wie möglich aufzuspüren.
Die Wohnung lag nahe am Meer; er atmete die frische Seeluft ein, als er aus dem Taxi stieg. »Irgendwo hier in der Gegend muß es sein«, erklärte der Fahrer kurz und bündig und machte sich aus dem Staub. Shinji mußte lange nach dem roten Briefkasten suchen, der an einer Straßenecke in der Nähe des Gebäudes stehen sollte. Als er ihn endlich aufgestöbert hatte, entpuppte sich der Wohnblock als lieblos hochgezogener Holzbau, in dessen Korridoren sich Gerümpel stapelte — alte irdene Kohlenbecken, leere Apfelsinenkisten und dergleichen mehr.
Er entdeckte eine Hausfrau, die im Garten Fisch auf einem Holzkohlengrill röstete. Sie schien eine gesprächige Person zu sein und beantwortete seine Fragen ohne Zögern. Zufällig ergab es sich, daß sie direkt neben Nr. 5 wohnte, dem ehemaligen Domizil der Obana-Schwestern. Die übriggebliebene Schwester war vergangenen September ausgezogen; diesen Entschluß hatte sie offenbar sehr plötzlich gefaßt. Sie hatte ihr gesamtes Mobiliar dem hiesigen Trödelladen verkauft. Außerdem hatte sie durchblicken lassen, daß sie in den Westen Japans zog, und war, ohne sich ordentlich von den anderen Mietern zu verabschieden, auf und davon.
»Hatte sie irgendwelchen Besuch, kurz bevor sie verschwand?«
»Soviel ich weiß, war die Reporterin einer Frauenzeitschrift zwei- oder dreimal bei ihr, um ihr Fragen über den Selbstmord ihrer Schwester zu stellen, aber sonst war, glaub' ich, niemand da.«
»Es weiß also niemand, wohin sie gegangen ist?«
»Na ja, manchmal sprach sie davon, nach Hiroshima zurückzuziehen, aber...«
»Hat sie eine Umzugsfirma beauftragt?«
»Das bezweifle ich. Es gab nichts zu transportieren — sie hat sogar das Bettzeug verkauft. Und sie verschwand mitten in der Nacht, keiner von uns hat es mitgekriegt. Man sagt, sie hat eine großzügige Abfindung wegen dem Tod ihrer Schwester bekommen; wahrscheinlich ist sie zurück nach Hause gegangen und hat sich mit einem kleinen Geschäft selbständig gemacht.«
Shinji bedankte sich für ihre Hilfe und ging. Er spürte eine gewisse Niedergeschlagenheit; offensichtlich würde die Suche nach Keiko Obanas Schwester kein Kinderspiel werden. Angenommen — und das war leider sehr wahrscheinlich —, sie war absichtlich untergetaucht; wie sollte er sie unter über hundert Millionen Japanern ausfindig machen? Außerdem hatten sie einen Termin: den Eröffnungstag des Verfahrens vor dem Berufungsgericht. Und dabei war nicht einmal sicher, daß sie noch lebte. Was, wenn sie in den Krater eines Vulkans gesprungen oder sich in tosende Strudel geworfen, wenn sie sich frech etwas ausgesucht hatte, wo man ihre Leiche niemals finden würde? Solche Fälle waren an der Tagesordnung.
Er saß in einem Netz; je mehr er zappelte, desto enger zog es sich zu. Im Taxi beschloß er, sich an den traditionellen Selbstmordschauplätzen umzusehen. Man konnte ja nie wissen...
Er fuhr zum Büro zurück, aber Hatanaka war unterwegs. Mutsuko Fujitsubo, die Sekretärin, war damit beschäftigt, eine Suchanzeige zu verfassen.
»Herr Hatanaka ist zum Gefängnis gefahren. Er bat mich, eine Meldung unter der
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