Schwestern der Nacht
bestellte den Musiker zu mir und bat ihn, Zigeunerleben zu spielen. Der Geiger, ein glatzköpfiger alter Mann, reagierte auffallend auf meinen Wunsch.«
Endlich hob Hatanaka seine schläfrigen Augenlider und schaute den Jüngeren an. Seine Stimme hatte einen Nachdruck angenommen, den Shinji noch nie zuvor gehört hatte.
»Der Musiker grinste mich verschlagen an und meinte: >Die Gäste vom Boi mögen dieses Stück ganz besonders gern, hab' ich nicht recht, mein Herr?< Ich fragte ihn, wie er das meinte, woraufhin er mit wissendem Blick erwiderte: >Als nächstes werden Sie mir erzählen, daß ein dürres Mädchen auf diesem Platz gesessen und mit einem Mann von unten im Chor gesungen hat. Das stimmt doch, oder, mein Herr?<« Der Alte drückte seine Zigarre aus. »Ich wollte wissen, ob man ihm schon einmal diese Fragen gestellt hätte, und er antwortete wie aus der Pistole geschossen, man hätte, und zwar eine Frau vor etwa einem Jahr.«
Shinji fühlte sich wie jemand, der aus einer pechschwarzen Kohlengrube in den Sonnenschein hinaustritt. Er hing an Hatanakas Lippen wie ein Spieler an den Händen des Kartengebers; es war, als sollten im nächsten Moment zwei identische Karten aufgedeckt werden.
»Ich erkundigte mich nach dem Aussehen der Frau. Er konnte sich nur noch an einen großen Leberfleck an ihrer Nase erinnern, weil der Rest ihres Gesichts unter einem breiten Hut und einer Sonnenbrille verborgen gewesen sei.«
Schweigen lag im Raum. Was hatte die Frau mit dem Leberfleck dort gewollt? Natürlich, dachte Shinji, der Alte hatte recht! Sie legte ihre Fallstricke für Ichiro Honda aus.
»Und wonach hat diese Frau den Geiger gefragt?«
»Nach dem Namen des Mannes, der mit dem Mädchen gesungen hat, sowie anderen Bars, in denen er regelmäßig verkehrte.« »Und das war vor einem Jahr?«
»Ja. Genau vier Monate vor dem Mord an Kimiko Tsuda in Kinshi-Cho.«
»Wer war sie?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber ich habe so einen Verdacht. Eine Verwandte von Keiko Obana, würde ich sagen.«
»Und diese Schwester war ihre einzige Verwandte?«
»Ja. Ich habe sämtliche Zeitungsartikel durchgeackert, die zur Zeit des Selbstmordes erschienen sind. Die beiden bewohnten gemeinsam ein Apartment in Omori. Ich habe einen Detektiv dorthin geschickt, der das Ganze einmal unter die Lupe nehmen sollte. «
Shinji sog scharf die Luft ein — als unfreiwilliges Zeichen seines Respekts. Die Anwaltskanzlei Hatanaka hatte die Spur gefunden, die ihr bei Ichiro Hondas Verteidigung helfen würde. Es sah tatsächlich so aus, als ob ein Zusammenhang zwischen dem Selbstmord der Schreibkraft und den Morden bestünde. Vor seinem geistigen Auge tauchten drei Gesichter auf: der Fotolaborant, der Kosmetikverkäufer, der homosexuelle Strichjunge. Jetzt hieß es, die geheimen Episoden im Leben dieser drei Männer miteinander zu verknüpfen — und dadurch Hondas Unschuld zu beweisen.
Der Alte saß wieder mit geschlossenen Augen da, als würde er schlafen. Plötzlich gellte das markerschütternde Klingeln des Telefons durch den Raum. Der Schreck war Hatanaka dermaßen in die Glieder gefahren, daß seine Hand zitterte, als er den Hörer abnahm.
Das Telefongespräch war sehr einseitig; gelegentlich gab Hatanaka ein Grunzen von sich oder warf eine knappe Bemerkung ein. Mit seiner Rechten kritzelte er unterdessen emsig auf einem Notizblock herum. Schließlich hängte Hatanaka ein und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Shinji hütete sich, ihn zu stören. Nach einer Weile schlug sein Chef die Augen wieder auf, steckte sich eine frische Zigarre an und begann:
»Keiko Obanas Schwester ist vergangenen September aus dem Apartment in Omori ausgezogen. Niemand weiß, wohin; sie ist einfach verschwunden. Aber all ihre Nachbarn geben die gleiche Beschreibung ab — eine Frau mit einem großen Leberfleck am rechten Nasenloch.«
»Das war's dann wohl; wir haben Sie, nicht wahr?«
»Nein. Wir müssen sie nicht nur aufstöbern, wir brauchen auch noch ein Motiv und müssen demonstrieren können, wie die Verbrechen ausgeführt wurden.« Hatanaka zeigte wieder einmal seine gewohnte Umsicht.
»Sie muß geglaubt haben, daß ihre Schwester sich umgebracht hat, weil Honda sie sitzen ließ.«
»Vermutlich. «
»Dann müssen wir herausfinden, wo sich die Schwester aufhält.«
»Das wird nicht so einfach sein. Nichtsdestotrotz bin ich mit Ihnen einer Meinung, daß wir keine Alternative haben.« Der Alte klang plötzlich müde, und Shinji verstand sehr
Weitere Kostenlose Bücher