Schwestern der Nacht
hatte. Sie war auch mein Köder auf dem Tokio Tower; weil sie wußte, daß ich zusah, hatte sie keine Angst, ihn zu küssen. Sie bestellte ihn mitten in der Nacht in ihre Wohnung; sie fürchtete sich nicht, weil ich ihr versprochen hatte, da zu sein.
Trotzdem mußte sie sterben, die arme Maus. Mindestens dafür verdient mein Mann den Tod, für den Mord an diesem unschuldigen Mädchen. Denn Mann und Frau sind eins, oder etwa nicht? Es spielt also keine Rolle, daß er — meine bessere Hälfte — an meiner Stelle zum Galgen geht.
Heute rief mein Vater an, um mir mitzuteilen, daß ein Bett in der Klinik für mich frei ist. Morgen werde ich im Krankenhaus sein. Morgen und morgen und morgen ... unendlich viele Morgen werde ich in einem Krankenhausbett aufwachen. Das ist meine Bestimmung.
Und eines Tages, wenn ich vielleicht längst nicht mehr bin, wird dieses Atelier abgerissen. Man wird das Betonfundament aufbrechen — und dann? Was wird man finden? Menschliche Knochen; mehr nicht, wage ich zu behaupten. Der Verwesungsprozess wird den Leberfleck längst vernichtet haben. Es wird nichts mehr übrig sein, woran man Tsuneko Obana identifizieren könnte. Es sei denn, die Wissenschaft hat bis dahin große Fortschritte gemacht; vielleicht entdeckt man dann die Nachwirkungen eines Leberflecks. Tsuneko Obana. Ich mußte es tun. Ich mußte ihren Platz einnehmen.
Doch all das wird die Zukunft zeigen.
Heute weiß ich, daß ich mich weiter und weiter von mir selbst entferne, gezogen von unsichtbaren Kräften, die immer größere Kontrolle über mich haben. Dieser Krach in meinem Kopf — wie ich mich danach sehne, daß er endlich aufhört! Vielleicht können sie in der Klinik etwas dagegen tun. Wenn mir heute ein Polizist Fragen stellen würde, könnte ich ihm keine vernünftige Antwort geben.
Was wird mir die Zukunft bringen? Heute bin ich nur Haut und Knochen, aber in zehn oder zwanzig Jahren wird das anders sein. Eine fette Nymphomanin wird in einem Krankenhausbett dahinsiechen und Schokolade oder ihre eigenen Exkremente fressen — na und? In der Psychiatrischen Abteilung werde ich als die Frau bekannt sein, die die Bänder ihres Nachthemds um die Bettstangen schlingt und mit aller Kraft daran zieht.
Fast 16 Uhr. Zeit für mich, wieder Tsuneko Obana zu werden. Ich schnappe meinen Schminkkoffer, mach' mir geschickt die Augen zurecht; jetzt wird mich niemand mehr erkennen! Vorsichtig bürste ich schwarze Tinte an meine Nase.
In meinem Kopf hallt beharrlich Tsuneko Obanas Monolog:
»Dummes, dummes, kleines Ding. Sag nicht, du hättest in seinen Armen aufgeschrien. Erzählt mir bloß nicht, du wärst unter seinem Körper zermalmt worden ...«
Shinji schlug das Notizbuch zu und starrte den Alten an, der gelassen an seiner Zigarre nuckelte.
»Es wird natürlich seine Zeit dauern«, sagte Hatanaka, »aber das Buch dürfte reichen.«
»Ja, können Sie es denn benutzen? Ihr Versprechen...«
»Von dem ich mich als entbunden erachte. Die Haushälterin hat sich aufgehängt, als wir wieder weg waren. Ich hatte halb damit gerechnet; erinnern Sie sich noch an ihre Worte? >Ich habe meine Bürgerpflicht erfüllt<. Bei diesen feudalistischen Menschen kann das nur eins bedeuten. Ein Jammer, daß es heutzutage nicht mehr viele Japaner wie sie gibt.«
»Und Sie haben nicht versucht, sie zurückzuhalten?«
»Ach wirklich, Sie sind noch so jung! Ihr modernen Leute; ich möchte nur wissen, ob jemals wieder richtige Japaner aus euch werden! Nein. Die Loyalität eines Dieners zu verhindern, ist eine Sünde, für die man in der Hölle braten sollte! Wie dem auch sei, sie hat mir eine Nachricht hinterlassen: >Es liegt jetzt alles in Ihren Händen.< Ich nehme an, mir steht folglich frei, das Buch zu benutzen.
Und die Ehefrau sitzt mittlerweile in einer Irrenanstalt. Non compos mentis — wie dieses Notizbuch beweist. Man wird sie niemals zur Rechenschaft ziehen können — und falls man es versuchen sollte, wird es mir ein großes Vergnügen sein, sie zu verteidigen. Man bezweifelt ohnehin, daß sie jemals wieder zu Kräften kommt.«
Der Alte beförderte einen Rauchring in die Luft, und Shinji war plötzlich mit seinem Beruf ausgesöhnt. Für einen solchen Mann zu arbeiten, eines Tages, vielleicht, zu sein wie er...
Ende Oktober wurde Ichiro Honda aus der Haft entlassen. Dankbar nahm sein Blick die Farben des Herbstes wahr, und seine Lunge atmete den frischen Wind ein, der an der grauen Mauer des Gerichtsgebäudes entlangstrich, das er
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