Schwestern der Nacht
Notizbuch, auf das der Alte deutete. Shinjis Körper wurde von einer Erregung gepackt, die ihn fast schwindlig werden ließ.
»Das >Jäger-Logbuch<«, stieß er hervor.
»Jawohl«, bestätigte der Alte und blätterte die Seiten rasch durch, seine kurzsichtigen Augen fest darauf geheftet. »Der Abschnitt über Keiko Obana ist allerdings entfernt worden.« Er zeigte Shinji eine Stelle, an der einige Seiten brutal herausgerissen worden waren.
»Haben Sie was gefunden?« erkundigte sich der Hausmeister.
»Das hier«, erwiderte der betagte Anwalt und ließ das Buch behende in seiner Tasche verschwinden. »Und ich werde es als Beweisstück behalten.« Bei solchen Gelegenheiten war Hatanaka stets geneigt, die gesetzlichen Bestimmungen etwas großzügiger auszulegen.
Nachdem sie dem Hausmeister eingeimpft hatten, daß er sich unbedingt melden sollte, sobald Obana auftauchte, verließen sie das Midori-So. Wieder im Wagen, brach Shinji das Schweigen. »Wird sie zurückkommen?«
Hatanaka schüttelte den Kopf. »Wohl kaum. Der Vogel ist bereits ausgeflogen. Sie hat das >Jäger-Logbuch< mit voller Absicht zurückgelassen, damit es jemand wie wir finden kann.« Er begann das Tagebuch sorgfältig durchzulesen. Shinji spähte neugierig über seine Schulter.
Seine Augen fingen den Abschnitt über Michiko Ono ein, die Bibliothekarin, und er spürte ein Stechen in seinem Herzen. Rasch wandte er den Blick ab und sah aus dem Fenster.
Der Dunst eines Sommernachmittags lag über der Stadt. Die Lüftung des Wagens blies ihm an den Hals, egal wie er sich setzte. Der Bahnhof von Shinjuku zog an ihnen vorbei; im Vorhof wurden Bauarbeiten durchgeführt, weshalb ein provisorischer Holzübergang eingerichtet worden war, über den sich die Menschen langsam durch die Sommerhitze schleppten. Kipplader kamen und gingen, schütteten Erdhaufen auf die Straße.
Was hatte es ihm gebracht, Männer mit rh-negativem Blut aufzusuchen und die Frau mit dem Leberfleck aufzuspüren? War er nicht, trotz allem, nur ein Zuschauer? Die wirklichen Protagonisten — Ichiro Honda, Michiko Ono, die Frau mit dem Leberfleck, selbst die Mordopfer — waren an den Abgrund herangetreten und hatten in die Untiefen des Lebens hinabgeblickt. Und sie waren zum Teil wieder zurückgekehrt. Er war nirgendwo gewesen. Er hatte von außen zugesehen.
Der Alte war immer noch in das Tagebuch vertieft. Plötzlich hob er mit strahlendem Blick den Kopf. »Er hat wirklich ein ausgezeichnetes Gedächtnis! « jubelte er. »Seine Rekonstruktion war fast perfekt, bis hin zur richtigen Reihenfolge!« Er blätterte die Seiten noch einmal durch, doch dann wurde sein Gesicht schlagartig starr.
»Hier vorn fehlt doch eine Seite! Da, sehen Sie, wo Sie ausgerissen wurde?« Er hatte recht.
»Was hat er gleich gesagt, wer sein erstes Opfer war? Aber es muß doch... Genau, die Frau, die in diesem Buch als Nummer zwei auftaucht. Offensichtlich hat es vorher aber noch eine andere gegeben — wer kann das nur gewesen sein? Und wieso fehlt die Seite?«
Der Alte ließ seine schweren Augenlider herabsinken und dachte nach. Schließlich sagte er mehr zu sich selbst: »Wenn wir nicht aufpassen, machen wir vielleicht einen großen Fehler.«
Seine Stimme klang gequält; hatte er plötzlich einen Irrtum in seiner Theorie bemerkt? Shinji versuchte ihn in ein Gespräch zu verwickeln, während der Wagen durch die Stadt rollte — ohne Erfolg. Erst als sie vor einer roten Ampel in Hibiya warten mußten, brach Hatanaka sein Schweigen und sagte zum Fahrer: »Zum Sugamo-Gefängnis, bitte.«
Den ganzen Weg zur Haftanstalt war Shinjis Geist in hellem Aufruhr. Einerseits war er ganz versessen darauf, das >Jäger-Logbuch< zu lesen, das auf den Knien des Alten ruhte, andererseits hatte er Angst davor. Was hatte Honda über seine Affäre mit Michiko Ono zu Papier gebracht? Wie detailliert beschrieb er ihre gemeinsamen Bettspiele? Wie hatte Michiko sich ihm gegenüber verhalten? Shinji stellte fest, daß er eifersüchtig war.
Ihm bedeutete der Eintrag über seine Exfreundin eben soviel wie Hatanaka die herausgerissene Tagebuchseite.
5
Der Warteraum des Gefängnisses war heiß und stickig; der Schweiß rann Shinji in Bächen über das Gesicht. Der Alte saß unbeweglich wie ein Fels da, die schwarze Tasche mit dem Tagebuch auf den Knien. Dann endlich waren sie an der Reihe, ins Sprechzimmer zu gehen.
Ein zum Tode Verurteilter durfte keine Krawatte tragen, was Ichiro Hondas heruntergekommenes Erscheinungsbild noch
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