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Schwestern der Nacht

Schwestern der Nacht

Titel: Schwestern der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Masako Togawa
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Shinji, was der Alte wohl mit dem Tagebuch anstellen würde. Worüber dachte Hatanaka nach, das Kinn auf der Brust, im Mundwinkel eine Zigarre?
    Shinji für sein Teil spürte den Stachel der Eifersucht in seinem Herzen. Der einzige Teil, den er gern von diesem Tagebuch lesen wollte, war der Abschnitt über Michiko Ono.

6
    Eine weitere Woche verstrich, dann entwickelten sich die Dinge plötzlich in eine Richtung, die Shinji sehr überraschte. Honda ersuchte um eine Audienz beim Gefängnisdirektor, bekannte sich schuldig und bat darum, die Berufungsklage zurückzuziehen.
    »Genau was ich befürchtet habe«, kommentierte der Alte geheimnisvoll. »Wir gehen auf Reisen — machen Sie sich sofort startklar.«
    «Wo fahren wir denn hin?«
    »Nach Osaka. Ich muß mit dem Schwiegervater unseres Klienten sprechen.«
    Sie verließen Tokio noch am selben Abend. Am folgenden Tag blieb Shinji im Hotel, während Hatanaka sich mit Ichiro Hondas Schwiegervater traf. Kurz vor ihrer Abreise war der Alte noch einmal in der Strafanstalt Sugamo gewesen, doch Honda hatte ihm wieder nichts über die fehlende Seite verraten, sondern auf seiner Schuld beharrt. Selbst Shinji begriff, daß der Grund für Hondas Kehrtwendung in der verschwundenen ersten Seite des Tagebuchs liegen mußte.
    Hatanaka war erst kurz zuvor fünf Tage lang allein in Osaka gewesen — und zwar direkt nach ihrem gemeinsamen Besuch bei Honda. Er war sehr verschlossen, was diesen Ausflug anging. Shinji traute sich nicht, ihn auszufragen, und ließ sich statt dessen lieber bei Mutsuko Fujitsubo über den Alten aus, der jetzt, wo es endlich interessant wurde, den Fall völlig an sich riß. Er reimte sich immerhin zusammen, daß ihn diese Fahrt zu dem Schwiegervater und der Ehefrau des Verurteilten geführt haben mußte. Er kam nicht umhin, die Vitalität des Alten zu bewundern, der im Alter von mehr als siebzig Jahren noch auf solche Reisen ging.
    Jetzt saß er hier in einem Hotel in Osaka und wartete. Nach einer Stunde kam Hatanaka zurück. Wo war er gewesen? Shinji stellte keine Fragen, stieg einfach in den Wagen und begleitete seinen Boss zum Domizil von Ichiro Hondas Ehefrau.
    Sie wurden von der alten Haushälterin empfangen. Sie hatte sie offensichtlich erwartet und führte sie ohne Umschweife zu dem Künstleratelier am Ende des Gartens. Dort war es trotz des gleißenden Sonnenlichts draußen nahezu dunkel; das einzige Geräusch in der ansonsten vollkommenen Stille war das Summen der Klimaanlage. Das Faktotum schob mit einem langen Stab die Deckenplane zur Seite; sofort war der Raum in strahlendhelles Licht getaucht.
    In einer Ecke stand ein altmodisches Eisenbett, auf dem eine Frau lag. Die Haushälterin schaffte zwei Holzstühle herbei, die eher für Kinder denn für Erwachsene gedacht schienen, stellte sie neben das Bett und bedeutete den beiden Männern mit einer stummen Geste, darauf Platz zu nehmen.
    Shinji sah Taneko, Ichiro Hondas Frau, zum erstenmal. Obwohl sie angeblich unter dreißig war, sah sie aus wie eine kranke Vierzigjährige. Bildete er sich nur ein, daß der Raum vom Geruch des Todes durchdrungen war wie eine Krebsstation?
    »Ihr Mann hat seine Berufungsklage zurückgezogen«, sagte Hatanaka bedächtig. Die Frau auf dem Bett gab keine Antwort. Sie schien ihre Anwesenheit gar nicht wahrzunehmen. Die Haushälterin beugte sich über das Bett und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Schließlich richtete sie sich wieder auf und sah die beiden Männer kopfschüttelnd an; auch sie hatte nichts erreicht.
    Die drei betrachteten die Kranke; eine unsichtbare Schranke schien ihre Welt von der der Besucher zu trennen. Ohne ein Lebenszeichen starrte sie mit leerem Blick in die Luft, die Decke bis über den Mund gezogen. Nur das Rauschen der Klimaanlage zeugte vom Vorhandensein der Wirklichkeit und dem Verstreichen der Zeit. Die Minuten krochen langsam dahin.
    Nach einer scheinbaren Ewigkeit legte Taneko schließlich eine leblose Hand an ihr Gesicht, wodurch die Bettdecke bis zu ihrem Hals hinunterrutschte. Sie sah erst Shinji, dann den Alten an und brach plötzlich in Gelächter aus; ihr Gesicht blieb jedoch vollkommen ausdruckslos, was ihrem Heiterkeitsausbruch eine schaurige Note verlieh. Und dann sprang es Shinji ins Auge.
    Rechts unten an ihrer Nase saß ein riesiger Leberfleck von der Größe einer Adzukibohne! Der Leberfleck, von dem er so viel gehört hatte! Er klebte ihr im Gesicht wie die personifizierte Sünde.
    Während er auf das schwarze Mal starrte,

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