Schwestern der Nacht
murmelte er vor sich hin: »Warum hat mir eigentlich niemand gesagt, daß Hondas Frau einen Leberfleck hat?«
Taneko streckte ihre Hand nach dem Beistelltisch aus und fischte langsam nach einem silbernen Handspiegel. Dann starrte sie abwesend ihr Spiegelbild an, schaufelte eine Handvoll Cold Cream aus einem Tiegel neben dem Kopfkissen und verteilte sie über ihre rechte Wange. Der Leberfleck begann zu verblassen und war schließlich völlig verschwunden. Was für ein Streich war das nun wieder?
Als nächstes schmierte sie ihre Augen mit Creme ein und entfernte das stärkeartige Make-up, mit dem sie sich überhängende Lidfalten hingezaubert hatte. Nach vollendeter Verwandlung legte sie den Spiegel wieder auf den Tisch und lehnte sich zurück. Ihr Gesicht war immer noch eine Maske, leer und ohne Lächeln.
»Jetzt begreifen Sie wohl endlich«, sagte die alte Frau zu Hatanaka und Shinji. Sie griff nach der Stange und verdunkelte den Raum wieder. Schweigend folgten die beiden Männer ihr in den Garten hinaus. Shinji sah sich noch ein letztes Mal um, doch Taneko hatte die Decke wieder über ihr Gesicht gezogen und lag reglos da wie eine Leiche.
In der Eingangshalle des Haupthauses drückte die Haushälterin Hatanaka ein Notizbuch in die Hand.
»Hier drin hat sie sich Aufzeichnungen gemacht, bevor sie in diesen Zustand verfiel«, erklärte sie. »Sie haben wohl gesehen, daß es im Augenblick hoffnungslos wäre, sie einem Handschrifttest zu unterziehen. Geben Sie sich also bitte mit dem hier als Muster ihrer Schrift zufrieden. Sie werden feststellen, daß die Schrift mit der auf dem Zettel des Mädchens aus dem Türkischen Bad übereinstimmt. Aber Sie müssen mir versprechen, daß Sie das Notizbuch nicht an die Öffentlichkeit bringen werden — daß Sie es niemandem zeigen, niemals. Wenn Sie mir das nicht versprechen, werde ich es ins Feuer werfen.«
»Haben Sie«, fragte Hatanaka, »die Seiten aus dem >Jäger-Logbuch< herausgerissen — die erste und die mit dem Abschnitt über Keiko Obana?«
»Ja, das war ich.«
»Und haben Sie auch das Tagebuch in dem Apartment im ersten Stock des Hauses deponiert, in dem Mitsuko Kosugi umgebracht wurde?«
Die alte Frau nickte. »Die junge Herrin hat sich außerhalb des Gesetzes begeben, und ich habe durch mein Handeln meine Bürgerpflicht erfüllt. Ich sah mich gezwungen, Herrn Hondas Leben zu retten, weshalb ich vor sechs Wochen nach Tokio gefahren bin und das Tagebuch dort hinterlegte, wo Sie es gefunden haben.«
Der Alte lächelte leicht beim Abschied.
Während sie den sanften Hang zur Bahnstation hinuntergingen, war Shinji immer noch damit beschäftigt, diese Wendung der Dinge zu verarbeiten: »Ich hätte schwören können, es war die Schwester; woher wußten Sie das alles?«
Doch der Alte schwieg hartnäckig.
Plötzlich spürte Shinji das ganze Pathos dieser Welt. Den gesamten Weg den Abhang hinab ... zu beiden Seiten reihten sich Häuser mit roten Dachschindeln aneinander. Wer konnte schon sagen, welch bescheidenes Leben hinter den Türen geführt wurde, wie viele erbitterte Auseinandersetzungen um Lappalien es gab? Das banale und eintönige Leben des Normalbürgers —was für ein Kontrast zu der Atmosphäre des Zimmers, das er gerade erst verlassen hatte! Wie real waren sie, die kranke, nach Tod riechende Frau und der Mann, dessen Wille in der Todeszelle zerbrochen war? War das alles nicht bloß ein böser Traum, nur eine flüchtige Sekunde in diesem brütendheißen Sommer?
Seine Gedanken schweiften zurück zu Yasue im Türkischen Bad, zu Tanikawa im Restaurant, zu dem Medizinstudenten, der ihm ständig den Rücken zugedreht hatte. Was hatten diese Marionetten mit der Verrückten auf dem Bett zu tun, die sich die Bettdecke übers Gesicht zog?
Der Alte winkte ein Taxi herbei, sie stiegen ein.
Trotzdem. . . dachte Shinji, sind unsere Erfahrungen nicht die gleichen gewesen wie von zwei Vogeljägern, die das Rotkehlchen schließlich unter ihrem eigenen Dach finden? Die Frau mit dem Leberfleck, der er so verbissen nachgejagt hatte, sie hatte die ganze Zeit über im Käfig gesessen.
Hatanakas Stimme riß ihn aus seinen Träumen. »Wir sind noch nicht aus dem Schneider. Ich kann mein Versprechen nicht brechen und von dem Notizbuch Gebrauch machen. Wir müssen einen anderen Weg finden, den Angeklagten aus dem Gefängnis zu holen.«
Bei diesen Worten wedelte er energisch mit Taneko Hondas Aufzeichnungen.
Epilog
Aus Taneko Hondas Aufzeichnungen.
Ich nehme meinen
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