Schwiegertöchter (German Edition)
»Das Schloss ist mit großen Kosten von Heinrich II. erbaut worden.« Luke hatte sich später mehr für Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg interessiert und Anthony heftig um dessen aufregende Erlebnisse als kleiner Junge bei der Demontage von Verteidigungsanlagen am Strand und bei der Beseitigung von Minen und Blindgängern beneidet. Edward, mittlerweile ein kosmopolitischer Stadtmensch, hatte sich damals hauptsächlich für die Naturgeschichte der Gegend interessiert und Meerfenchel und Grasnelken gesammelt, er hatte Möwenarten anhand ihrer Beinfarbe bestimmen können und stundenlang in den flachen Feldern beim Deich ausgeharrt und auf Feldhasen gewartet, die zur Paarungszeit im Frühjahr ihre ungewöhnlichen Boxkämpfe austrugen.
Man gewinnt nichts, wenn man jene Zeit mit der jetzigen vergleicht, dachte Anthony, als er jetzt die steile Inlandseite des Deichs hinabstieg und sich zurückwandte, um der weißen Fläche eines Segels nachzusehen, das sanft vorbeiglitt. Damals ging es um drei Jungen unter zwölf, jetzt um drei Männer um die dreißig. Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen. Der heutige Tag erfüllte ihn mit Abscheu, das ganze Drama, die anstrengenden Fahrten, Lukes und Charlottes Nachlässigkeit bei der Verhütung, Ralphs rücksichtslose Selbstbezogenheit, Rachels Unfähigkeit, ihre Gedanken, ihr Temperament und ihre Zunge im Zaum zu halten. All das bekümmerte und verdross ihn, und er sehnte jenen fiktiven Hund herbei, der ihm auf dem Weg durchs Weizenfeld vorauseilen würde, so vollkommen darauf konzentriert, einem Geruch nachzuspüren, dass nichts ihn davon ablenken könnte. Allein die Unkompliziertheit wäre schon eine Wohltat. Es würde Anthony daran erinnern, dass das Leben nicht nur aus Missverständnissen und Wutausbrüchen und verletzten Gefühlen bestand.
Aus dem Weizen ertönte plötzlich ganz nah ein scharfer langgezogener Vogelruf. Anthony blieb stehen und rührte sich nicht. Auf einer Weizenähre saß – statt auf der sonst bevorzugten Schilfspitze – ein Rohrammermännchen, kleiner als Anthonys Hand, der Körper auffällig gestreift und gesprenkelt, der Kopf kohlschwarz mit einem komischen weißen Bart. Anthony wartete. Der Vogel hatte ihn ganz sicher gesehen. Bestimmt gab es in der Nähe ein Nest, nah am Boden und durch darüberhängendes Gras abgeschirmt, mit etwa einem halben Dutzend Eiern darin, aus denen braune Nestlinge mit schwarz-weißen Schnurrbärten neben ihren winzigen Schnäbeln schlüpfen würden. Der Vogel und der Mann verharrten einige wunderbare Sekunden reglos in der Abendstimmung, und dann stieß der Vogel wieder seinen merkwürdigen kleinen Schrei aus und flog ohne Hast davon ins Schilf hinter dem Deich. Anthony sah ihm nach. Er holte Luft.
»Ich danke dir«, sagte Anthony ins Leere.
Rachel kam erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück. Anthony hatte sich einen Whiskey mit Wasser eingeschenkt und ihn mit ins Atelier genommen, um dort wie üblich abzutauchen, aber es war ihm nicht gelungen, so dass er zurück in die Küche gegangen war, die Sonntagszeitung ausgebreitet und versucht hatte, sie zu lesen, ohne allzu oft auf die Uhr zu sehen und sich noch einen zweiten Whiskey einzuschenken.
Rachels Wagenschlüssel landeten laut klappernd auf dem Küchentresen. Ohne Anthony anzusehen, sagte sie: »Es tut mir sehr leid.«
Er starrte auf die Zeitung. »Mir auch.«
»Ich möchte eigentlich nicht darüber reden.«
»Ich dachte …«
»Ich wollte«, sagte Rachel. »Aber es ist mir irgendwie vergangen. Als ich in ihrer Küche stand, hatte ich einfach nur genug von allem, hatte genug von mir, genug von meinem Verhalten. Was auch besser war.«
Anthony blickte auf. Rachel stand noch da, wo sie beim Reinkommen stehen geblieben war. Sie sah erschöpft und mitgenommen aus, ihr Haar stand hier und da ab, als hätte sie geschlafen, als es noch feucht war.
»Wie meinst du das?«
Rachel drehte sich langsam zu ihm um. Sie lächelte zögerlich. »Na ja, es hat sie wohl nicht interessiert …«
»Was?«
»Ich bin angekommen, als Ralph gerade die Kinder gebadet hat. Also habe ich ihn abgelöst und später Kit vorgelesen und bin dann runtergegangen. Petra hat am Küchentisch gezeichnet und Ralph war in seinem Büro. Ich habe Petra von dem Baby erzählt. Sie hat nicht mal aufgeblickt, sondern nur gesagt: ›Das ging aber schnell.‹ Und ich habe blöderweise gesagt: ›Bei euch auch‹, und darauf hat sie nichts erwidert, sondern einfach weitergezeichnet,
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