Schwiegertöchter (German Edition)
Sie versuchte sich einzureden, dass das, was sie heute gesagt hatte, auch nur gesunder Menschenverstand war, und alle dasselbe gedacht, aber nicht zu sagen gewagt hatten, aber es gelang ihr nicht. Sie versuchte sich einzureden, dass Anthonys Reaktion übertrieben und ungerecht gewesen und auf seine tragisch männliche Verblendung durch Charlottes Aussehen zurückzuführen war, aber es gelang ihr nicht. Sie nahm sich vor, dass sie trotz allem, was sie getan und wie Anthony reagiert hatte, nicht vor ihm weinen würde, und das gelang ihr. Und so saß Rachel Meile für Meile des langen Weges nach Suffolk im schwindenden Licht eines spätsommerlichen Sonntagnachmittags, das Gesicht abgewandt und die Augen geschlossen, hinter denen ihre Gedanken wild durcheinanderwuselten.
Zu Hause angekommen, hielt Anthony in der Einfahrt und wartete, dass Rachel ausstieg, damit er den Wagen in die kleine Scheune fahren konnte, die ihnen als Garage diente.
»Eigentlich brauche ich den Wagen noch«, sagte Rachel.
»Du brauchst ihn noch?«
»Ja.«
»Wozu?«
»Um nach Aldeburgh zu fahren«, antwortete Rachel.
Anthony starrte durch die Windschutzscheibe und sagte: »Hoffst du dort auf mehr Verständnis?«
»Darum geht es nicht.«
»Nein?«
Rachel sagte leicht verzweifelt: »Ich muss mit jemandem reden. Einfach reden. Mit dir kann ich das nicht.«
Anthony öffnete die Fahrertür und stieg aus. Er sagte: »Nein. Das kannst du mit Sicherheit nicht.«
Rachel rutschte wenig elegant über den Schalthebel hinweg auf den Fahrersitz. Er war noch warm von Anthonys Körper, und diese Wärme verstärkte ihr Bedürfnis zu weinen mehr als alles andere, was ihr auf dem Heimweg durch den Kopf gegangen war. Als sie den Motor gestartet hatte und losfahren wollte, merkte sie, dass der Sitz zu weit hinten war und die Spiegel den falschen Winkel hatten, so dass sie nach einem Meter wieder anhalten musste, um alles einzustellen, während Anthony ihr mit undurchdringlicher und in keiner Weise aufmunternder Miene zusah. Sie fuhr langsam über den Kies und durch das Tor auf die Straße, und erst als sie außer Sichtweite des Hauses und Anthonys bewegungsloser, stummer Gestalt war, ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
Anthony war mit Hunden aufgewachsen. Sein Vater hatte immer Spaniels gemocht, braun-weiß gefleckte, die entweder wie wild herumrasten oder wie tot schliefen, und Anthony hatte angenommen, dass alle Familien Hunde hätten, so wie sie Kühlschränke und Autos und Fernsehapparate hatten. Rachel dagegen war als Kind einmal so schlimm von einem Hund gebissen worden, einem alten, halb blinden Labrador, der geglaubt hatte, sie wollte ihm sein Fressen vorenthalten, dass sie sich danach in Gegenwart von Hunden nie wieder wohlgefühlt hatte. Den letzten von Anthonys Spanieln hatte sie zwar toleriert und sogar während der langen Nächte vor seinem Tod auf einer alten Bettdecke in der Küche auf seinen pfeifenden Atem gelauscht, aber danach bat sie um eine hundefreie Zeit. Die zog sich, weil Edward auf die Welt kam, und dann, weil Ralph kam, und so weiter, bis sogar Anthony den Gedanken akzeptierte, ohne Hund weiterzuleben. Tatsächlich dachte er inzwischen kaum mehr an Hunde, und nur in Momenten wie diesem, da er parallel zum Meer am Fluss entlang zum Kai lief, kam ihm der Gedanke, dass ein Hund ein angenehmer Kamerad und eine unkomplizierte Ablenkung von all den Dingen wäre, die ihm im Kopf herumschwirrten. Vor einem Hund konnte man gefahrlos alles aussprechen, was man mal loswerden musste, aber vor anderen Menschen nicht sagen durfte, weil es alles nur noch sehr viel schlimmer machen würde.
Der Spazierweg folgte dem Deich zwischen flachem Land zur linken Seite und dem Ore-Fluss zur rechten. Anthony kannte ihn schon sein ganzes Leben lang. Er begann beim Kai mit den stillen, geschützten Wasserflächen und den flachen Landzungen und den Scharen kleiner, vertäuter Segelboote, die im sanften Wind knarrten. Vom Kai ging der Weg weiter vorbei an Holzhütten, die wochentags frischen Fisch verkauften, vorbei an einer hübschen kleinen Teestube mit Veranda und an dem weißen Würfel vom Segelclub – alles vertraut, alles zeitlos, genauso zeitlos wie landeinwärts die ferne Silhouette der Kirche und des Schlosses zwischen den Bäumen und Hecken. Alle drei Jungen hatten das Schloss geliebt, als sie klein waren. Von Ralph war es für ein Schulprojekt ausgewählt worden, und er hatte mit Sorgfalt einen besonnenen Aufsatz darüber geschrieben, der begann:
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