Schwiegertöchter (German Edition)
muss einen emotional packen.«
Rachel hatte ihre Hand aus seiner genommen, weiter das Bild betrachtend.
»Ja«, sagte sie respektvoll.
Das Atelier, obgleich durch eine unkrautüberwucherte Kiesfläche vom Haupthaus getrennt, hatte in ihrer aller Leben die gleiche Bedeutung wie Rachels Küche. Alle drei Jungs schliefen als Babys dort tagsüber in dem alten kutschenartigen Kinderwagen, der schon Anthony gehört hatte, und später brachten sie ihre Hausaufgaben mit und setzten sich an einen der vollbeladenen Tische, traten gegen die Stuhlleisten und beschwerten sich über Bruchrechnung und Französischvokabeln und Mrs Fanshaw, die jedem in der Schule mit einem in Dettol getauchten Läusekamm durchs Haar fuhr.
Es dauerte allerdings etliche Jahre, bis das Atelier und das, was Anthony darin produzierte, Geld einbrachte. Während dieser Jahre kochte Rachel für die Partys von Leuten aus der Gegend und veranstaltete kleine, zwanglose Kochkurse in ihrer Küche, die sie durch das Herausbrechen mehrerer Wände vergrößert hatte. Zusätzlich arbeitete Anthony in Teilzeit als Lehrer an einer fünfundzwanzig Kilometer entfernten, angesehenen Kunsthochschule, ein Job, den er aus Gewohnheit und Neigung auch dann behielt, als seine eigenen Arbeiten ausgestellt und gut verkauft wurden und er Mitglied der Royal Academy in London geworden war. So hatte er auch Petra kennen gelernt.
Sie war ihm zunächst aufgefallen, weil sie nie ein Wort sagte. Sie saß hinten im Raum, trug diese schrägen Künstlerklamotten, wie sie die meisten von Anthonys Studenten bevorzugten, und schrieb eifrig mit. Wenn er beim Reden zwischen den Studenten auf und ab ging, warf er gelegentlich einen Blick über ihre Schulter. Sie schrieb mit Bleistift und einer kräftigen und ausdrucksvollen Handschrift in ein Notizbuch, das kunstvoll gestaltet war und selbstgemacht aussah. Ihr Haar war von einem blauen, goldgesprenkelten Stofffetzen zusammengehalten und ihre Hände – sie hatte abgekaute Fingernägel – steckten in fingerlosen, zerrissenen schwarzen Spitzenhandschuhen. Sie unterbrach sich nicht, als er neben ihr stehen blieb, und er konnte sehen, dass sie exakt das aufschrieb, was er sagte.
»Ich möchte Ihnen allen das so freundlich wie möglich sagen, aber Korrektheit kann eine schreckliche Angewohnheit werden. Sehen Sie, es steckt eine Wahrheit in dem, was wir beobachten, und es steckt eine Wahrheit in unserer Interpretation von dem, was wir beobachtet haben. Wenn Sie einen Vogel malen, möchten Sie das Gefühl vermitteln, dass Sie dort gewesen sind, dass Sie auf diesen Moment im Leben eines echten Vogels reagieren. Verstehen Sie?«
Petra hatte »schrecklich« und »interpretieren« und »dort« unterstrichen, seinen Betonungen folgend. Und als er die Schüler später zur Lockerung ihrer Zeichenarme weitschweifig mit Zeichenkohle über große Papierbögen fahren ließ, sah er, dass sie entweder ein Naturtalent oder schon hervorragend ausgebildet worden war, und dass sie alle anderen in der Klasse weit übertraf. Aber sie sah ihn niemals an und sie sprach nicht, und Anthony, dem auffiel, dass ihre skizzenhaften Striche bereits die konkrete Vogelgestalt ahnen ließen, nötigte sie weder zum einen noch zum anderen.
»Da ist ein Mädchen in der Schule«, sagte er zu Rachel. »Ein sonderbares Mädchen. Ich würde sie auf neunzehn oder zwanzig schätzen. Sagt nie etwas. Aber sie zeichnet wie ein Engel. Es ist schon Jahre her, dass ich jemanden mit einer solchen Begabung hatte.«
Rachel zermahlte Pinienkerne für ein Pesto.
»Wie heißt sie?«
»Petra Sowieso.«
»Petra?«
»So steht es auf meiner Teilnehmerliste. Ich habe sie es nie sagen hören. Ich habe sie überhaupt nie irgendetwas sagen hören. Sie ist vollkommen stumm.«
»Wie friedlich.«
»Und faszinierend. Ich bin fasziniert von ihr.«
Rachel begann Olivenöl auf die grüne Masse aus Basilikumblättern und Pinienkernen zu gießen.
»Lade sie zu uns ein. Ich vermisse die Freunde unserer Jungs. Das habe ich immer geliebt, wenn die Küche voll war und sie so einen Bärenhunger hatten.«
»Ich kann sie nicht einladen, bevor sie nicht von sich aus etwas sagt«, meinte Anthony.
Rachel probierte mit einem Finger die Sauce.
»Vielleicht wäre sie was für Ralph. Er redet auch nicht viel.«
»Er würde keinen Vorschlag von uns akzeptieren.«
»Wahrscheinlich nicht. Ist sie hübsch?«
Anthony überlegte. »Ja …«
»Das klingt nicht überzeugt.«
»Nun, sie ist nicht auf Sigrids Weise
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