Schwimmen mit Elefanten - Roman
Schachbretter.
Der Junge war unter ihnen. Geschickt schlüpfte er durch die Beine der Zuschauer hindurch, um permanent alle zehn Spielfelder im Blick zu haben. Es war das erste Mal, dass er Simultanschach miterlebte, er war sofort fasziniert von der perfekten Harmonie zwischen Ruhe und Bewegung. Die zehn Spieler saßen reglos an ihrem Platz. Die Figuren glitten Zug um Zug mit der gewohnten Geschwindigkeit über die Felder. Nur Herr S., dem nicht erlaubt war stehen zu bleiben, drehte unaufhörlich seine Runden.
In seinem Kopf hatte er alle Spielstände abgespeichert, die dann von Runde zu Runde wechselten. Hatte der Junge im Inneren des Automaten das komplette Schachbrett vor seinem inneren Auge, konnte Herr S. gleich zehn Partien auf einmal im Gedächtnis behalten. Es war unglaublich! Zwar hatte es den Anschein, Herr S. würde immer nur das Brett fixieren, vor dem er gerade stand, in Wahrheit aber wanderte sein Blick pausenlos umher. Wenn er sich Brett A näherte, hatte er bereits den letzten Zug seines Gegners analysiert und sich seinen nächsten zurechtgelegt, wodurch er sich in Gedanken der Partie auf Brett B und C widmen konnte. Da er für jede Partie eine eigene Strategie hatte, reagierte er nur auf die zu erwartenden Fehler der alten Herrschaften, um daraufhin sofort Brett D und E in Augenschein zu nehmen … Das war die Prozedur.
Seine Fingerspitzen waren wie ein aufblitzendes Licht und ein dahinströmender Fluss zugleich. In seinen Händen wachte eine unglaubliche Intelligenz, mit der er die komplexesten Situationen meisterte, ohne dabei an Präzision zu verlieren. Nie gab es ein Zögern, nie eine Unachtsamkeit.
Die alten Herrschaften wiederum wollten dem weit gereisten Meister mit aller Ehrerbietung begegnen: Jeder von ihnen gab sein Bestes. Die auf sämtlichen Schachbrettern identische Ausgangsstellung entwickelte sich nach und nach auf unterschiedliche Weise. Jedoch merkte der Junge, dass es eine Verbindung zwischen allen Partien gab. Auch wenn jedes Spielfeld seine Eigenständigkeit besaß, waren die jeweiligen Züge keineswegs selbstsüchtig. Alle elf Personen spürten den Atem des anderen, sie tauschten Blicke, und ihre Augen funkelten wie eine Galaxie blinkender Sterne.
Der Junge hielt sich abseits des Sternennebels, von einer ruhigen Ecke aus beobachtete er das Flackern. Herr S. machte seinem Ruf alle Ehre.
Auf jedem Brett entwickelte sich nun ein erbitterter Kampf. Es gab welche, wo jeder Angriff lautlos und konzentriert vorgetragen wurde. Und es gab solche, auf denen ein einziger Zug alles änderte. Der Junge feuerte die alten Herrschaften, die tapfer durchhielten, im Stillen an. Er fühlte sich dabei, als würde er auf den Knopf neben dem Hebel drücken, damit der Kleine Aljechin seinem Gegner zuzwinkerte.
Je weniger Figuren auf den Spielfeldern verblieben, umso mehr erhöhte Herr S. das Tempo. Seine Lippen waren ausgetrocknet, das verschwitzte Haar klebte ihm am Nacken. Hin und wieder vernahm man das Klicken eines Fotoapparats, sonst war nur das Klacken der Figuren zu hören und die Schritte von Herrn S. Das Schweigen der Zuschauer wurde mit jeder Runde dichter. Gerade fragte sich der Junge, ob sich die gespannte Stille im Raum noch steigern ließ, da hörte man den ersten König fallen. Und ehe er sich’s versah, fielen ein zweiter und ein dritter. Die Zuschauer, die so lange ausgeharrt hatten, seufzten laut.
Der fünfte König, der sechste, der siebte – sie alle schafften es nicht, Herrn S. standzuhalten. Die matt gesetzten Damen und Herren blickten an die Decke, rauften sich die Haare oder schlossen erschöpft die müden Augen. Das Ende war nur noch eine Frage der Zeit. Je weniger Gegner übrig blieben, umso druckvoller konnte Herr S. agieren, sodass kaum einer der Alten mehr in der Lage war, Gegenwehr zu leisten.
Dann gab sich auch der Letzte geschlagen, ein alter Herr, der Herrn S. bis zuletzt Paroli geboten hatte. In dem Augenblick, als der Sieg des Großmeisters verkündet wurde, brach im Salon ein Beifall aus, um seine großartige Leistung zu würdigen. Die aus dem Schweigen entfesselte Begeisterung erfüllte den Raum bis in den letzten Winkel. Herr S. setzte, nachdem er jedem Mitspieler die Hand geschüttelt hatte, ein Lächeln auf und bedankte sich beim Publikum:
»Heute haben Sie, werte Damen und Herren …«
Gerade als er seine Ansprache beginnen wollte, wurde plötzlich die Tür aufgerissen. Alle Anwesenden drehten sich abrupt um.
»Die Gondel hängt fest!«
Es war der
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