Schwindel
zu verfehlen. Meine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit, etwas
Mondlicht schien durch die Baumkronen und der Bach murmelte unermüdlich zu meiner Rechten. Dennoch dauerte es keinedrei Minuten, bis ich das erste Mal stolperte und hinfiel. Während ich mein schmerzendes Knie rieb, horchte ich auf die Geräusche
um mich herum. Der Bach übertönte viel, nicht aber das heisere Rufen eines Käuzchens am anderen Ufer und das Rascheln in den
welken Blättern gleich hinter mir. Wohl eine zu Boden fallende Eichel oder eine Maus. »Jedenfalls nicht das mörderische Munkelbacher
Killereichhörnchen, Eva«, sagte ich laut zu mir selbst, lachte kurz über meinen eigenen Scherz und zwang mich weiterzugehen.
Mein Tempo war zu schnell, zu hastig, ich merkte es an dem Schweißfilm, der sich bald auf meinem Rücken bildete. Auch war
der Trekkingrucksack schwerer als gedacht, meine Schultern begannen zu schmerzen. Ich wollte aber nicht trödeln! Ich wollte
zu Julian und ich wollte raus aus dem Wald.
Also weiter! Verdächtiges Knacken im Unterholz, das Gefühl, als sei jemand hinter mir her? Einbildung! Hier war niemand außer
mir.
»Hast du jetzt Angst?«, hatte der Fuchs mich mal in einer Stunde gefragt, als das Thema plötzlich auf arg Unangenehmes gekommen
war und ich meine Knie hatte festhalten müssen, weil sie so zitterten. Ich hatte ihm keine Antwort gegeben, hatte gehofft,
er sähe es nicht, was natürlich illusorisch war, da er unentwegt jede meiner Regungen registrierte. Er hieß nicht nur zufällig
»Fuchs«, er hatte auch alle Eigenschaften, die diesem Tier in Fabeln zugesprochen werden: Er war schlau, gerissen und Furcht
einflößend für Hasenfüße wie mich, wenn sein Gesicht auch manchmal weich und freundlich wurde.
»Warum?«, hatte er mich gefragt und die Vokale dabei in die Länge gezogen. »Was kann denn passieren?«
»Gar nichts!«, musste die Antwort lauten. »Mäuse, Eulen und Eichhörnchen tun mir nichts und ich fürchte mich auch nicht!«
So ging ich weiter, mich Schritt für Schritt mit den Stimmen des Waldes vertraut machend und mit der Zeit sogar neugierig
spähend, ob ich vielleicht die Eule entdecken könnte, deren Rufe mich weiter begleiteten. Stark kam ich mir vor, bis ich die
Stelle erreichte, an der die Forststraße kreuzte.
Zunächst war es nur eine Frage der Orientierung. Die Kreuzung war mir auf dem Umgebungsplan am Bahnhof nicht aufgefallen,
vielleicht war die Karte schon älter und die breite, geschotterte Forststraße noch nicht eingezeichnet. Sie kam von links
den Hügel hinunter, führte über eine stabile Holzbohlenbrücke auf die andere Bachseite und folgte, soweit ich sehen konnte,
dessen Verlauf. War dies die Strecke, die ich zu gehen hatte? Die Rauschenmühle, in der Julian auf mich wartete, lag diesseits
des Baches. Hier aber konnte ich keinen weiteren Fußweg erkennen. War er mittlerweile zugewuchert, weil man nun die Forststraße
benutzte? Oder begann der alte Pfad weiter oben beziehungsweise unten, direkt dort, wo die Brücke den Bach überspannte? Ich
zögerte, trat in den Schutz eines gezimmerten Regenhäuschens, lud meinen Rucksack auf die für hungrige und müde Wanderer vorgesehene
Bank, von der er mit einem dumpfen Geräusch sogleich herunterkippte, ließ ihn liegen und entspannte kurz meine strapazierten
Schultern. Gerade beschloss ich, den Einstieg zumTrampelpfad zunächst weiter unten zu suchen, als ich das Motorengeräusch hörte. Im nächsten Moment waren der Rucksack und
ich unter der Bank verschwunden und das Auto bretterte über die Brücke. Schotter knirschte, Bremsen kreischten, als der Geländewagen
vor dem Regenhäuschen zum Stehen kam. Motor aus: Stille, darin das gedämpfte Dröhnen einer Stereoanlage, mein hämmerndes Herz,
mein viel zu lauter Atem.
Von so einer Situation hatte ich nachts schon tausendmal geträumt.
Ruhig, Eva, nicht denken, nicht bewegen, nicht atmen.
Die Türen gingen auf, die Musik wurde erst ohrenbetäubend laut, dann abgedreht und durch Stimmen ersetzt: »So, Arschloch,
von hier aus kannst du zu Fuß gehen!«
Jemand fiel aus dem Wagen und schlug auf dem Weg auf. Eine Person, die sich nicht mehr wehrte. Sie blieb gekrümmt liegen und
bewegte sich nicht. Dann stieg ein junger Mann aus, trat auf den Liegenden ein, blieb dann neben ihm stehen, stemmte die Hände
in die Hüften und sah sich um.
Ich kniff die Augen zu und machte mich unter der Bank so klein wie möglich.
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