Schwindel
gab nie schnell auf. Zudem waren Gespräche sein Lebenselixier. Der Fuchs hätte
mir also entweder eine Frage gestellt, die ich einfach hätte beantworten
müssen
, oder er hätte eben so lange gewartet, bis ich das Schweigen nicht mehr ausgehalten und von selbst wieder zu reden begonnen
hätte. Lange dauerte das bei mir nie. Selbst anfangs, als ich mich noch fürchtete, zu viel von mir preiszugeben, hatte der
Fuchs mich immer irgendwie zum Sprechen gebracht.
Aber jetzt war ich nicht zum Grübeln aufgelegt, ich war auf dem Weg in den Urlaub, zu Julian!
Ich entspannte mich, schloss die Augen und träumte vor mich hin, bis der Zugführer per Lautsprecher verkündete, dass wir soeben
mit siebzehn Minuten Verspätung in den Düsseldorfer Hauptbahnhof einfahren würden und die Regionalbahnen leider nicht hätten
warten können.
»Hoffentlich holt der die Verspätung bis Bonn wieder auf«, murmelte ich, sah aber sofort an Bergers Gesichtsausdruck, dass
das ziemlich unwahrscheinlich war. Also nahm ich mein Handy und wählte Julian an. Er klang nicht erfreut, als ich ihm sagte,
dass ich eventuell meinen Anschlusszug verpassen könnte.
»Vielleicht kriege ich ihn auch«, sagte ich hoffnungsvoll, »ich renne auf jeden Fall.«
»Na, wenn nicht, ist es auch nicht so schlimm, dannkommst du eben eine Stunde später, schade, aber nicht zu ändern.«
»Wir haben ja das ganze Wochenende für uns.«
»Genau. Wir ärgern uns nicht über Kleinigkeiten, wir machen’s uns richtig schön.«
»Ja!« Eine Zugverspätung war wirklich kein Grund zur Sorge.
»Ach ja, verliebt müsste man sein, eine Freundin müsste man haben«, sagte Soldat Berger, nahm sein Gepäck, stand auf und verabschiedete
sich. »Viel Spaß am Wochenende. Wird sicher unvergesslich.«
Das wurde es allerdings.
Im Bonner Hauptbahnhof leistete ich mir einen Cappuccino, kritzelte, mit einer Pobacke auf der Sitzstange eines Stehcafés
hockend, mein Tagebuch voll und vertrieb mir die Langeweile, indem ich in der Buchhandlung alles durchblätterte, was einigermaßen
interessant war. Als es Zeit war, um in den Regionalexpress zu steigen, den ich ja eigentlich schon vor einer Stunde erreichen
wollte, kam die Durchsage, dass dieser leider wegen eines technischen Defekts zwanzig Minuten später hier einträfe.
»Das darf nicht wahr sein!«, rief ich aus, denn damit war klar, dass ich die Bimmelbahn in Koblenz ebenfalls verpassen würde.
Wieder eine Stunde verloren!
Ich spürte, wie fahrig meine Finger waren, als ich nach dem Handy griff. Was würde Julian dazu sagen? Okay, es war nicht meine
Schuld, dass ich viel später als erwartet ankommen würde, aber trotzdem!
»Hi, ich bin’s. Ich bin immerhin schon in Bonn, aberes wird möglicherweise noch später, weil ich die nächste Bahn vielleicht auch nicht kriege.«
»Nee, ne?!«
»Tja.« Ich sah unschlüssig auf die an mir vorbeiströmenden Leute. »Wie kommst du denn so zurecht? Ist das Dach schon repariert?«
»Noch nicht.«
Mensch, warum war er denn auf einmal so kurz angebunden? Okay, das Timing passte ihm nicht, aber glaubte er etwa, ich fände
es toll, meine Zeit auf Bahnhöfen zu verbringen?
Wir schwiegen. Jemand rempelte mich im Vorbeilaufen an, ich tastete nach meinem Portemonnaie. Wenn sie mir das jetzt noch
klauen, schoss es mir durch den Kopf, bin ich ganz verloren.
»Okay, Evchen, jetzt lass mal nicht die Flügel hängen, du wirst hier schon ankommen, ich jedenfalls warte auf dich, und wenn’s
bis morgen früh dauert«, hörte ich da Julians Stimme und die kurze, starke Verzweiflung, die mich plötzlich überfallen hatte,
löste sich so schnell auf, wie sie gekommen war. Ich setzte mich auf eine Bank in die warme Nachmittagssonne und holte wieder
mein Tagebuch aus dem Rucksack. Was würde ich tun, wenn ich diesen Trost nicht hätte!
In den vergangenen zwei Jahren hatte ich dem Büchlein so gut wie alles anvertraut, was mir auf der Seele gelegen hatte. In
türkisblauer, teils tränenverlaufener Tinte erzählte es meine Lebensgeschichte, spiegelte meine Gespräche mit dem Fuchs wider,
offenbarte meine intimsten Geheimnisse. Am vergangenen Abend hatte ich überlegt, ob es klug war, das Buch mitzunehmen.Julian hatte nämlich noch keinen blassen Schimmer von dem, was alles darin stand.
Er hatte sich noch nie die Mühe gemacht, so richtig hinter meine Fassade zu blicken. Es hatte ihn nicht verwundert, dass ich
ihm aus meinem alten Freundeskreis niemanden
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