Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
er laut über die Ebene rufen sollte. Dann entsann er sich seiner Begegnung mit dem Soldaten. Vielleicht war es besser, nicht auf sich aufmerksam zu machen.
Mit jeder Minute zog sich der Nebel weiter an den Horizont, und Ian sah nun eine kleine Hütte am Fuß des Hügels stehen. Sie sah recht unpassend aus, zu menschlich in diesem Reich von Blut und Blau, auch wenn die Farben der Heimstatt sich nicht sehr von der Umwelt abhoben. Die Holzbalken der Wände waren zu bläulichem Grau verwittert, der Stein des Sockels war knochenweiß mit roten Spuren, die es so aussehen ließen, als blute das Haus von innen nach außen.
Ian trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als er verstand, dass dieses Gebäude eine Bluttat beherbergte. Rückwärts bergauf zu gehen, stellte sich freilich als wenig praktikabel heraus, denn er stolperte und setzte sich auf den Boden nieder, während seine Hände das harte, blaue Gestrüpp berührten.
Er wandte sich um und blickte den Hügel hinan. Dort sah es kaum hübscher aus, doch immerhin floss hier kein Blut; nur scharfe, weiße Steine ragten aus dem toten Boden hervor wie Schädel, die sich in einem Friedhof nach oben kämpften auf der Suche nach Licht.
Er fragte sich, ob die Augenhöhlen alsbald hervorkommen würden.
Den letzten Gedanken schob er mit aller Macht aus seinem Gemüt. Seine Vorstellungskraft war entschieden zu ungebärdig, als dass man ihr gestatten durfte, einfach mit ihm davonzulau fen. Er wollte nicht an Gräber denken. Auch nicht an Schädel. Steine, korrigierte er sich. Dies hier war nichts als Fels.
Friedhofsszenerien der schwarzromantischen Art würden nicht zur Lösung seiner Probleme beitragen. Hauptproblem: Wie kam er von hier weg? Und zwar möglichst schnell.
„Ich will hier raus!“, verkündete er und hoffte einen kurzen Augenblick lang, die Verbalisierung seiner Wünsche allein mochte genug Gewicht haben, die Realität zu beeinflussen.
Hier klang seine Stimme so dumpf, dass sie ihm einmal mehr die Seltsamkeit seiner Situation vor Augen führte. Verbalisieren würde nichts helfen. Und Wünschen würde ihn nirgendwohin bringen, wenngleich die Theorie arkaner Einflussnahme mit der Realisierung von Wünschen viel zu tun hatte.
Doch der Kernpunkt arkaner Arbeit war das Manipulieren der Kraftlinien der Welt. Ein entsprechend geschulter Mensch konnte damit die Welt nach seiner Absicht verändern.
Das Erspüren dieser Kraftlinien war keine automatische Gabe. Man musste es erlernen. Die meisten seiner Primaner-Kollegen konnten die Linien bislang noch nicht einmal wahrnehmen. Ian schon. Er musste sie aktiv aus seinem Bewusstsein blenden, um sie nicht andauernd zu sehen. Sie waren Teil seiner Welt.
Wie ein Blinder streckte er jetzt seine Hände aus und versuchte, sie zu finden.
Nichts.
Panisch versuchte er, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren.
Immer noch nichts. Das war zutiefst verunsichernd. Ein ganz grundlegender Teil seiner Weltsicht war nicht da. Es war, als fehlte dieser Welt der Boden oder der Himmel.
Wieder wand er seinen Geist um das Konzept, dass sie einfach da sein mussten. Sie waren schließlich überall. Sie definierten die Welt und das Leben darin.
Doch diese Welt hatte mit Leben wenig gemein. Mit der Erkenntnis, dass er die Struktur dessen, was er für eine allgegenwärtige Konstante des Universums gehalten hatte, nicht finden konnte, legte sich neue Verzweiflung auf seine Seele. Er zitterte.
Blut sickerte ihm aus der Nase. Bei dem Versuch, das Unmögliche zu erreichen, hatte er sich überanstrengt. Ein Schwindel schien ihn nun mit Macht zu erfassen, und er quälte sich wieder auf die Füße, um zu verhindern, dass er einfach in Ohnmacht versank. Er wollte nicht so tot enden wie der ganze Ort hier.
Sehr tot.
Der Gedanke an einen Friedhof war ihm nicht zufällig gekommen.
„Ich lebe!“, murmelte er. Und er gehörte auch nicht hierher.
Er wischte sich mit den Händen das Blut vom Gesicht und blickte über seine Schulter den Berg hoch. Wenn er dieses überdimensionierte Grabmal erklomm, würde er immerhin die ganze Welt überblicken können.
Der Gedanke, am Scheitelpunkt eines Grabes zu stehen, behagte ihm nicht. Wenn er diesen Ort als Friedhof begriff, würde er darin sterben. Besser täte er daran, ihn als Rätsel zu sehen, als Aufgabe, die ihm seine Professoren gestellt hatten. Er musste eine Lösung finden.
Es kostete ihn eine fast physische Anstrengung, seine Gedanken zu ordnen.
Eins nach dem anderen. Als Erstes würde er sich
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