Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
einhundert Jahren nicht mehr lebendig. Ob das heißt, dass er tatsächlich tot ist, ist eine gänzlich andere Frage. – Was brachte dich hierher?“
Er wusste es nicht. Sie konnte das kaum fassen. Er hatte sie gefunden – erst am Fluss, dann im Wald und schließlich hier. Aber wie sie hierhergekommen war, wusste er nicht.
„Ein Mann hat auf mich geschossen. Ich dachte, er hätte mich erschossen. Doch dann … wie soll ich sagen … da war diese alte Frau …“
Er knurrte.
„Elende Einmischerin!“
„Sie kennen sie? Ist sie ein Geist?“
„Im Land der Lebenden ist es das, was sie ist.“
„Und ich? Was wäre ich jetzt im Land der Lebenden? Wäre ich tot?“
Wieder antwortete er nicht. Er hielt nur an, wandte sich ihr zu, zog ihr das zerrissene Kleid von den Brüsten und betrachtete sie eingehend. Ihr wurde peinlich bewusst, dass ihr Korsett nicht einmal ganz den unteren Teil ihrer Brüste bedeckte. Ihr Unterkleid war zerrissen.
Sanfte Finger strichen ihr übers Herz.
„Erschossen?“, fragte er sachlich. „Mit einer Pistole? Einer Kugel? Mitten durchs Herz?“
Sie wollte seine Hand fortstoßen, tat es dann aber nicht. Seine Hände waren warm, seine Ausstrahlung kühl. Doch plötzliche Hitze war nur eine Aufwallung weit entfernt. Sie konnte sie spüren. Ein seltsames Gefühl von Déjà-vu überkam sie. Es war wie die Erinnerung an eine alte Liebe, die sich an traute Gemeinsamkeit erinnerte, an ein Beisammensein, das nie stattgefunden hatte. Fast fühlte es sich an, als gehörte die Zuneigung, die sie verspürte, nicht ihr. Sie schob all diese Gedanken von sich fort.
„Hast du Durst?“, fragte er und deutete auf eine Quelle zu ihren Füßen. Sie kniete sich nieder und trank. Das Wasser schmeckte nach nichts. Eine Zeile aus einem Märchen wanderte durch ihr Gemüt: Wer isst und trinkt im Feenland, den Weg zurück er nimmer fand.
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet!“, mahnte sie.
Er schenkte ihr ein seidendünnes Lächeln.
„Zu viele Fragen. Die Welt ist nicht so eng durchdefiniert, wie du denkst, Amazonenkönigin. Oder wie ich es einmal geglaubt habe in meiner Hybris. Es gibt Regeln, Wahlmöglichkeiten und verpasste Gelegenheiten, Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten. Und vor allem gibt es Versagen. Ich kenne nicht alle Antworten. Ich weiß nur ein paar. Sie kommen und gehen und verändern sich. – Wir müssen rasch einen Weg hier heraus finden. Du hättest nie hierherkommen dürfen.“
„Ist das nicht – Ihr Ort?“, fragte sie.
Er schien über die Frage nachzudenken.
„Ich herrsche nicht über diesen Ort“, sagte er dann. Und irgendetwas ließ er ungesagt.
„Und Clarissa? Ist sie dort am Gipfel?“
„Clarissa? Nein. Ich würde sie nicht herbringen. Ich komme selbst nur hierher, wenn ich es nicht verhindern kann. Nicht immer habe ich eine Wahl. Was das Wählen angeht, war die Bandbreite nie besonders groß, doch jetzt ist sie besonders klein. Setz dich.“
„Ich dachte, wir haben es eilig?“
„Eile wird nutzlos, wo es an Zielgerichtetheit fehlt.“
„Aber wenn wir jetzt hier Pause machen, wird dann nicht dieser Soldat zurückkommen und uns angreifen?“
„Das ist möglich. Aber nicht wahrscheinlich. Sein Tun hat ihn zu viel gekostet. Meines mich freilich auch.“
Er stolperte und stürzte beinahe. Einen Augenblick lang verschwand seine unheimliche, scharfkantige Perfektion, und er wirkte menschlich, erinnerte sie an jemanden, doch sie wusste nicht, an wen. Sie stellte beinahe schockiert fest, dass er seltsam gut aussah auf seine dunkle Art. Seine Augen waren riesig, sein Mund strikt und doch weicher gemacht durch ein trauriges, schiefes Lächeln. Irgendwie schien er zu wenig zu sein, unfertig geradezu. Und dann wieder schien er mehr zu sein, als man wahrnahm.
„Ich habe zu viel gegeben, mehr als ich hätte geben sollen“, murmelte er. Sein Ärger war in der leblosen Kälte, die sie umgab, beinahe liebenswert. Er ließ sich auf den Boden nieder und lehnte seinen Rücken gegen einen Baum. Dann zog er sie neben sich nach unten, kam ihr dabei seltsam nah. „Ich muss sehen, woher ich es zurückbekomme.“ Er blickte sie ebenso prüfend wie entschuldigend an.
„Du stehst als einzige Quelle zur Verfügung.“
„Was für eine Quelle?“
„Leben. Wärme. Mut. Durchhaltevermögen. Willenskraft, Stärke, – Liebe. – Du willst doch nicht hierblieben, oder?“
Hierbleiben war das Letzte, was sie wollte.
„Was muss ich tun?“
„Liebe mich. Frei
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