Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
gelähmt.
Noch im Fallen hatte sie sich umgesehen und dem Dunklen ins Gesicht geblickt. Es war voller Verzweiflung gewesen. Er kämpfte seinen eigenen Kampf gegen eine Macht, die ihn von innen her zu attackieren schien.
Was war nur los mit diesem Wesen?
Es war eine sinnlose Frage. Sie hatte das Risiko bewusst auf sich genommen und dafür bezahlt. Nun, vielleicht war ihr das Risiko nicht so bewusst gewesen. „Spontan“ traf ihre Handlungsweise sicher genauer.
Nun war sie zurück in der Welt, die ihr als wirklich galt, und auch die hatte sich nicht verändert. Die Welt war trostlos, und Konstanze war ebenso ganz ohne Trost. Es hatte sie viel gekostet. Sie fühlte sich zu schwach, um sich auch nur zu rühren, zu schwach, um sich zu erheben und weiterzukämpfen gegen ihr Schicksal, die Fallstricke des Lebens und der Liebe und gegen jede Vernunft und Wahrscheinlichkeit.
Er hatte gesagt, er bräuchte Leben. Genau das schien er ihr auch genommen zu haben, denn sie fühlte sich leblos, war überfordert von allem, was ihr passiert war. Sie begriff nicht, wie etwas, das eben noch so voller Perfektion gewesen war, schon im nächsten Moment ins Gegenteil umschlagen konnte.
Sie hatte ihm ihre Liebe geschenkt. Er hatte sie mit plötzlicher und unerwarteter Gewalt belohnt.
Von einem Augenblick zum nächsten gab sie ihrer Hysterie freien Lauf. Ihr Schluchzen durchdrang den Wald. Sie fühlte sich zerrissen von Traurigkeit und zerstört. Tränen liefen ihr über das Gesicht, als ob jemand endlich das Flutventil geöffnet hätte.
„Nein! Nein, nein, nein, nein!“
Wenn sie hier liegen blieb und sich nie mehr wegrührte, würde sie dann die Gnade erleben, einfach nur im Nichts zu verschwinden? Würde das bisschen Energie, das sie noch hatte, sie endgültig verlassen? W ürde die Lebenskraft, die ihr nun nicht mehr gehörte, einen zu großen Verlust für ihren Körper darstellen, als dass sie so überleben konnte?
Einfach nur in die Unendlichkeit hinüberzuschlafen wurde zum plötzlichen, schwarzen Wunsch. Nie mehr die Augen zu öffnen, um die Wirklichkeit, die sie nicht mehr bewältigen konnte, nicht mehr sehen zu müssen.
„… zu wissen, dass ein Schlaf das Herzweh und die tausend Stöße endet, die unsers Fleisches Erbteil, ’s ist ein Ziel, aufs Innigste zu wünschen“, murmelte sie. Nicht einmal jetzt gelang es ihr, ihre literarische Bildung auszublenden. Ihr übervoller Kopf machte einfach weiter, als hausten Hamster darin, die auf ihrem Endlosrad vor sich hin liefen, immer bereit, sie mit passenden Sprüchen zu versorgen.
Doch Shakespeare hatte nicht viel zu bieten, wenn es um die Bewältigung ihrer Situation ging. Sie brauchte eine Rettungsleine, die sie aus dem Sumpf ihres Entsetzens ziehen würde.
„Worte, Worte, Worte …“ Leere Worte würden auch nicht helfen.
Immerhin waren die Worte wieder da. Ihre Sprachlosigkeit legte sich, stattdessen schwappten Sätze und Phrasen über sie hinweg, die alle nicht ihr gehörten. Sie waren so fremd wie der Mann, bei dem sie gelegen und den sie wenigstens einen kurzen Augenblick lang schon immer geliebt hatte.
Illusion und Desillusionierung.
Ein Auszug aus einem Gedicht flog ihren gequälten Sinn an, John Donne.
„Gib Acht mich nicht zu hassen,
Gar zu viel über mich zu triumphieren,
Denn sterbe ich an deinem Hass,
So hast du, Sieger, nichts gewonnen.“
Wo sie die Erinnerung daran plötzlich hergezogen hatte, wusste sie nicht, nur, dass sie den Spruch weder wörtlich noch dem Sinn nach ganz korrekt wiedergegeben hatte. „Lieb mich, damit ich sanfter sterben kann“, endeten die Verse. Das konnte vieles bedeuten.
Die Spätherbstkälte war nun zu ihr durchgedrungen. Ihr Kleid war nass. Sie musste aufstehen, oder sie würde eine Lungenentzündung bekommen.
Steh auf und geh.
Aber wohin nur? Jeder Richtungssinn war ihr abhandengekommen. Sie konnte nicht einmal einen Pfad erkennen. Sie war mitten zwischen die Bäume gefallen. Der Wind war das einzige Geräusch.
Sollte sie um Hilfe rufen? Oder würde sie nur wilde Tiere damit anlocken – oder diese Mönche, die sie zu Tode foltern wollten ?
Was genau hatte der Rabenmann ihr genommen außer Liebe und Stolz?
Sie drehte sich auf den Rücken. Äste breiteten sich über ihr aus. Kalter Sprühregen legte sich wie eine Decke auf ihr Gesicht. Der Tag ging zur Neige, und die Nacht würde sie in der Dunkelheit lassen. In der Wildnis.
Sie musste Hilfe suchen. Die Richtung war einerlei, solange sie sich nur
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