Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
aufgenommen hast“, sagte sie, und der Wind flüsterte durch die Äste.
„Meinst du, ich sollte versuchen, den Weg nach Hause zu finden?“ Es war ihr schon klar, dass sie nicht unbedingt eine Antwort von dem Baum erwartete, aber fragen musste sie dennoch. Noch mehr Vögel kauerten sich an sie, hüpften ihr auf den Leib, als wollten sie sie hier festhalten. Mit den Vögeln wollte sie keinen Streit. Ihre Schnäbel waren wie Waffen, groß genug, einer Beute das Fleisch von den Knochen zu reißen.
„Es ist nur, ich denke, es ist nicht wirklich gesund zu dieser Jahreszeit draußen zu campieren. Und es gehört sich sicher auch nicht. Fräulein Vanholst würde es gewiss nicht gestatten. Schon gar nicht, wo ich nicht anständig angezogen bin. Es ist“, sie suchte nach einem passenden Wort. „… unschicklich. Ungehörig und un-was-auch-immer. Jedenfalls schamlos.“
Erinnerungen brandeten heran, und sie wünschte sich, sie wären geblieben, wo sie waren. Man hatte sie geschlagen, auf einen Karren geladen und mit Säcken bedeckt. Dann dieses Haus, dessen Aura nur aus Gier und Verzweiflung bestand. Ein Kerl und eine Frau hatten sie bis aufs Hemd ausgezogen. Der Mann hatte ihr an die Brüste gefasst. Die Frau hatte ihm auf die Hände gehauen. Kein Berühren der Ware, hatte sie gesagt.
Viel, viel später war dann der junge Mann gekommen. Er war anders. Seine ganze Aura war – eben anders. Sie konnte es nicht richtig beschreiben, doch irgendwie war er salzig und glitzerte wie Stein. Aber es war, als wäre seine Macht durch die Realität eingeschränkt. Er hatte sich viel zu fest in dem logisch Möglichen verankert, und da war er eben nicht mehr als ein zierlicher junger Mann und kein schwertschwingender Ritter.
Jeder wollte etwas von ihr. Ian schon auch, und der fremde Mann, der behauptete, ihr Onkel zu sein. Dann waren da auch noch die zwei Mönche, die in ihre Wolke des Hasses eingehüllt waren und darauf entlangschlitterten wie auf Eis. Und wieder dieser Schmuggler vom Boot.
Wie immer hatte sich Fräulein Vanholst der Angelegenheit angenommen. Doch dann war die Wirklichkeit weggekippt, und nur noch unwirklicher Nebel blieb, in dem nichts von alldem geschah. Clarissa konnte die Frustration ihrer Lehrerin spüren, aber sie konnte nichts dagegen tun. Die Ereignisse der Nacht waren zu schrecklich gewesen, als dass ihr Gemüt einen plötzlichen Fluchtweg hätte ignorieren können.
Und doch war sie sich die ganze Zeit über der Gefahr bewusst. Sie hatte die blasse Gestalt des Todes an der Seite stehen sehen, als ob diese interessiert darauf wartete, dass der eine oder andere Mann Clarissa nun endlich tötete. Der Tod war eine Frau in einem zerfransten schwarzen Gewand mit bodenlangen, grauen Haaren. Clarissa kannte die Erscheinung, hatte sie gesehen, als ihre Mutter im Sterben lag. Die milchwangige Kreatur hatte ihr Gesicht gen Himmel erhoben, ihren schwarzen Mund geöffnet und lautstark gejammert. Ihr Geschrei hatte den Schleier zwischen Leben und Tod zerrissen und die Seele ihrer Mutter war hinübergeschlüpft, während ihre gesamte Liebe zurückblieb und sich ein neues Zuhause suchte.
Clarissa hatte nie jemandem davon erzählt. Es war ganz gewiss nichts, was Leute gerne hörten. Als die Vögel gekommen waren, hatte Clarissa sie zuerst für die Diener jener wartenden Todin gehalten. Doch sie traten nur die Tür in Richtung Irrealität weiter auf, und so konnte sie mit ihnen endlich entfliehen, weg von all dem Hass, der in der Luft lag.
Der Tod hatte ihr nachgesehen und dann Fräulein Vanholst angeblickt. Clarissa war in den Nachthimmel eingetaucht und hatte dort vor ihren Gewissensbissen Zuflucht gesucht in der Leichtigkeit des Seins, die nun gänzlich verschwunden war.
Die Erinnerung ließ ihre Fassung brechen, und sie begann bitterlich zu weinen.
„Fräulein Vanholst!“, jammerte sie.
Die Luft teilte sich, ein Flattern ertönte, und eine große Gestalt landete neben ihr. Ein Mann? War er gefährlich? Beinahe jeder schien derzeit gefährlich zu sein. Und niemand war da, ihr zu helfen.
„Du bist sicher!“, sagte eine dunkle Stimme. Sicher – war das ein Versprechen oder nur eine Lüge?
„Und Fräulein Vanholst?“
„Die ist im Moment gerade auch sicher.“
„Ich will, dass sie herkommt!“ Clarissa fiel auf, dass sie wie ein Kleinkind klang.
„Sie wird nicht ruhen, bis sie dich gefunden hat.“
„Sie liebt mich“, erklärte Clarissa mit absoluter Überzeugung.
Der Mann stutzte. Der letzte
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