Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
Ihre Gedanken wirbelten mir ihr.
Schließlich hielten ihre Hände irgendetwas fest, klammerten sich an dürres Gestrüpp. Sie merkte, dass sie ihre Augen geschlossen hatte, eine ganz automatische, wenngleich auch kindische Reaktion. Man verschloss die Augen vor dem, was man nicht sehen wollte, als ob es einem wiederum den Vorteil erschloss, dann auch nicht gesehen zu werden.
„Augen auf“, befahl sie sich selbst, doch ihr Mut reichte nicht aus. Sehen würde es real machen, und sie hatte den Tod noch nicht akzeptiert. Sie hatte in einer Scheune gesessen. Gesträuch sollte es in einer Scheune nicht geben. Auf dem Bauch liegend nachzugrübeln sollte ihr auch nicht mehr gegeben sein. Sie sollte tot sein.
Vielleicht war sie das ja auch. Schließlich wusste sie nicht, wie es war, wenn man tot war. Gab es hier Engel? Himmelspforten? Göttlichen Zorn? Vergebung?
„Vergib mir. Vergib mir. Vergib mir!“, murmelte sie. Ihre Stimme klang seltsam stumpf, als redete sie in ihrem eigenen Kopf. Oder in eine Decke hinein.
Sie lauschte der allumfassenden Stille. Nun war ihre ganze Reise bislang nicht von fröhlichen Geräuschen begleitet gewesen, doch diese Totenstille war unnatürlich und beängstigend.
Wie bei einer Inventur listete sie ihre Eindrücke. Sie wackelte in ihren Stiefeln mit den Zehen. Sie streckte ihre Hände aus und ließ sie über den Boden tasten. Sie sog die Luft ein. Hier roch es nach nichts. Sie suchte ihren Körper nach Schmerz ab. Tatsächlich taten ihr alle Muskeln weh. Aber das war auch schon alles; nichts wies auf eine Schusswunde hin.
Sie öffnete die Augen. Sie lag auf dem Bauch im Freien, hielt ein paar vertrocknete Pflanzen fest in ihren Händen. Ein Bauernhaus oder eine Scheune waren nirgends zu sehen. Sie stützte sich hoch auf die Ellenbogen. Dann richtete sie sich auf, bis sie kniete.
Das dauerte eine Weile. Nun sah sie besorgt an sich herunter. Da wo sie eine Eintrittswunde vermutet hatte, war nichts. Ein bisschen Dreck hing an ihrem Mantel, immerhin hatte sie auf dem Boden gelegen. Sie berührte ihren Leib mit den Händen.
Der Körper schien so weit in Ordnung zu sein. Kein Blut floss irgendwo heraus.
Einigermaßen beruhigt sah sie sich um. Ihr war schwindlig. Die Welt schien sich zu drehen und dabei ein beinah unhörbares Summen zu erzeugen. Es klang widerlich, als würde die Welt gegen etwas schleifen. Irgendwas war sehr falsch.
Sie traute ihren Beinen nicht, daher drehte sie sich noch auf Knien einmal um sich herum. Die Landschaft sah fremd aus. Die Bäume waren verkrüppelt und verdreht. Ihre Rinde war blaugrau, und die wenigen Blätter, die noch daran hingen, waren ebenfalls blau. Die Felsen, die aus dem dünnen Boden brachen, waren weiß, und statt der vielen Hügel und Täler war es hier flach – bis auf eine einzige Erhebung.
„Ich bin tot“, konstatierte sie.
Wieder wunderte sie sich über den gedämpften Klang ihrer Stimme.
Feuchte Kälte drang vom Boden her in ihre Kleidung. Ihre Knochen fühlten sich an, als wären sie aus Eis. Ihr war nun schon so lange nicht mehr warm gewesen. War dies vielleicht die Buße, die ihr auferlegt war? Für immer in der Kälte einer unfreundlichen Herbstlandschaft verweilen zu müssen?
„Bäume sind nicht blau!“, verkündete sie ins Nichts. Dann lehnte sie sich nach vorn, fasste den Boden mit beiden Händen, um nicht umzukippen. Sie war noch nie in ihrem Leben betrunken gewesen, doch sie war sich sicher, dass es sich ähnlich anfühlte. Die Welt wirbelte wie bei einem besonders scheußlichen Walzer.
Sie drehte sich auf den Knien weiter, richtete sich nun auf den Anstieg aus, der in einen zentralen Gipfel mündete. Hier gab es nichts. Vielleicht dort oben schon?
„Blaue Bäume“, murmelte sie noch einmal. „Lächerlich.“
Der Garten Eden war dies gewiss nicht. Doch sie würde nicht darauf wetten, dass es hier keine Schlangen gab.
„Vielleicht bin ich ja gar nicht tot.“
Das ergab freilich auch keinen Sinn. Doch sie würde nicht mehr herausfinden, solange sie einfach auf den Knien liegen blieb.
Vorsichtig rappelte sie sich auf. Der Kontakt ihrer Füße zum Boden war real. Und dennoch fühlte sie sich, als hätte sie sich zu lange im Kreise gedreht.
Zu ihrer eigenen Überraschung wünschte sie sich plötzlich, Herr von Rosberg wäre bei ihr. Sie hatten sich nur für eine kurze Zeit gekannt, und doch hatte er einen so tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen. Sein süßer Charme konnte es nicht sein, denn damit war er eher
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