Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
ungenügend ausgestattet.
Sie wollte ihn zurück. Mehr noch. Sie vermisste ihn schmerzhaft. Das war lächerlich. Er war vermutlich tot. Sie hatte ihn nicht retten können.
Sie trat einen Schritt nach vorn. Es war nicht so, dass der Boden sich wirklich unter ihren Füßen bewegte, doch er war keinesfalls so still, wie sie gerne gehabt hätte.
„Wahrscheinlich bleibt mir nichts anderes übrig, als den einen verflixten Berg zu erklimmen“, sagte sie. „Clarissa, meine Süße, ich hoffe, dass ich dich da finden kann.“
Vielleicht sollte sie das nicht hoffen. Wenn dies eine Version des Jenseits war, und in der Tat war sie keinesfalls überzeugt, dass es das nicht war, dann würde das Auffinden von Clarissa hier nur bedeuten, dass sie beim Versuch, ihre Schülerin zu retten, schließlich tödlich versagt hatte.
Sie blickte sich noch einmal um. Das Fehlen menschlicher Behausungen war augenscheinlich. Ihr fiel auf, dass, obgleich sie sich wirklich ausnehmend einsam fühlte, sie nicht das Gefühl hatte, wirklich ganz allein hier zu sein.
„Hallo?“, rief sie in die Ferne. „Hallo? Kann mich jemand hören? Ist hier jemand?“
Wachsende Unsicherheit war das Einzige, was ihr Versuch als Ergebnis zutage förderte. Vielleicht sollte sie lieber nicht rufen. Sie wollte möglicherweise gar nicht gehört werden. Die Menschen, die sie hier treffen mochte, waren eventuell nicht nett.
Sie kramte ihr Taschentuch hervor und putzte sich entschlossen die Nase. Weinen würde nicht helfen. Dann ging sie los. Sie war sich absolut nicht sicher, dass ihr Ziel nicht einfach eine Falle war und sie besser – viel besser vielleicht – in die andere Richtung laufen sollte.
So weit weg wie möglich.
Noch einmal wandte sie sich um. Nebel waberte am Horizont, umschloss die Welt ringförmig. Was in dieser Richtung lang, konnte sie nicht sehen. Wenn sie dort hinging, würde sie sich in einem Nebel verirren, der undurchdringbar wirkte.
Allerdings war es wohl kaum möglich, sich noch mehr zu verirren, als sie sich schon verirrt hatte. Der Nebel driftete langsam in ihre Richtung. Fast wirkte es, als schliche er sich hinterrücks an sie an.
Widerwillig drehte sie dem Nebel den Rücken zu und ging wieder los. Etwas anderes gab es ohnehin nicht zu tun.
Als sie den ersten Baum erreichte, hielt sie inne und betrachtete ihn. Er wirkte wie ein Kunstwerk eines wahnsinnigen Bildhauers. Die blaugraue Borke zeigte ein Relief, dessen Interpretation einen ängstigte. Blickte man nicht ganz fest hin, so setzte das Gehirn das Muster in sich bewegende Szenen von Verstümmelung und Massakern um. Konzentrierte man sich, war es wieder nur brüchige Rinde. Es bewegte sich nichts. Und doch konnte man aus dem Augenwinkel eine Bewegung erahnen. Vielleicht war es eine Warnung oder sollte einen nur daran erinnern, was hinter einem lauern mochte.
Konstanze lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie fasste ihre überbordende Vorstellungskraft und versuchte sie zu zügeln wie ein Pferd. Vielleicht war sie ja tot. Dann sollte sie das Totsein wenigstens mit Stil angehen. Hysterische Anfälle waren tunlichst zu vermeiden.
Freilich hatte sie sich einem hysterischen Anfall noch nie so nah gefühlt wie jetzt. Am liebsten hätte sie sich auf den Boden geworfen, das blassblaue Heidekraut mit ihren Fäusten bearbeitet und den völlig übertriebenen Bäumen die Äste abgerissen.
„Unsinn!“, schalt sie sich und stellte fest, dass sie das in letzter Zeit erschreckend oft gesagt hatte. Es hatte nicht mehr die gleiche Wirkung und tröstete nur wenig.
Sie ging weiter, und als sie sich umsah, war der Baum so weit von ihr fort, dass es ihr unmöglich erschien, dass sie eben noch daran gelehnt hatte. Bewegte sich das Ding etwa?
Sie blickte nach vorn. Drehte sich dann noch einmal um. Diesmal wusste sie, dass sie sich nicht vom Fleck gerührt hatte.
Der Baum allerdings schon.
Er stand nun näher am Nebel und verschwand allmählich darin, während weiße Schwaden wie Fangarme über den Boden glitten und den nicht existenten Weg auffraßen, den sie entlanggelaufen war.
Sie sollte sich besser beeilen. Sie wusste nicht, was geschehen mochte, wenn der Nebel sie erreichte.
Kapitel 38
T heodor Gütze hatte keinen Sin n für das Landleben. Er war ein Großstädter. Wo Menschen eng zusammengepfercht lebten, war es einfacher, sie zu kontrollieren. Und er war der Meinung, dass seine Kontrolle unerlässlich war.
Er fluchte leise vor sich hin. Tatsächlich hatte er fast
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