Schwingen der Lust
davon hatte noch nicht den Weg ins Internet gefunden.
Sie stieg die Stufen zwischen den gewaltigen Säulen hinauf und betrat das Gebäude durch den Haupteingang.
Eine halbe Stunde später saß sie, drei Stockwerke tief unter dem Bryant Park, in dem Archiv, in dem alle bibelrelevanten Texte gelagert waren. Auf dem großen Tisch vor ihr stapelten sich die Bücher und Abschriften - alles, was sie über das Buch der Wächter von Henoch hatte finden können; darunter englische Übersetzungen der Qumrantexte. Doch vor allem anderen blätterte sie durch die seltene englische Bibelausgabe der Äthiopischen Kirche, die den geheimnisvollen und angeblich ältesten apokalyptischen Text der Welt in ihren Kanon aufgenommen hatte.
Henoch war der Vater Methusalems, des der Bibel zufolge ältesten Menschen aller Zeiten, und damit der Urgroßvater Noahs. Er hatte also lange vor der Sintflut gelebt und war wegen seines gerechten Lebenswandels noch zu seinen Lebzeiten als Unsterblicher in den Himmel aufgefahren, wo er als Richter und Chronist die Ereignisse, die zu der Vernichtung der Menschheit führten, aus erster Hand miterlebte und sie aufzeichnete.
Maggie war nervös - ohne genau sagen zu können, ob diese Nervosität dieselbe war, die sie immer empfand, wenn sie begann, an einem neuen Manuskript zu arbeiten, oder ob sie mit Axel zu tun hatte. Schließlich war sie im Begriff, mehr über das Wesen herauszufinden, dessen Namen er sich auf den Körper hatte zeichnen lassen ... und damit auch mehr über ihn, den Mann, der so unvermittelt und mitreißend in ihr Leben getreten war.
So seltsam und schräg ihre bisherigen Begegnungen auch gewesen sein mochten, jedes Mal, wenn sie an ihn dachte - und sie dachte eigentlich ständig an ihn —, standen ihre Gefühle Kopf.
Es hatte noch nie einen Mann gegeben, der sie so schnell so tief bewegt hatte, der sie so sehr beschäftigte und nach dessen Nähe sie sich so dauerhaft, ja beinahe schmerzhaft sehnte. Nach seinen Berührungen, dem Glanz in seinen Augen, der so viele aufwühlende Nuancen annehmen konnte, wenn er sie ansah, dem Duft seiner Haut, seiner warmen, tiefen und so verdammt verführerischen Stimme.
Natürlich flackerte da auch immer wieder ein Alarmsignal auf, ein unbestimmtes Gefühl, dass er auf irgendeine Weise gefährlich war. Dass an ihm etwas anders war als an anderen. Und dann wiederum war es doch genau diese Andersartigkeit, die sie so sehr an ihm faszinierte. Dieses Dunkle. Diese Ungewissheit. Die Unmöglichkeit, irgendetwas vorherzusehen - und damit verbunden die Klarheit, in der Begegnung mit ihm auf eine seltsam willkommene Weise nichts, aber auch gar nichts unter Kontrolle zu haben.
Anders als alle anderen Männer, die Maggie jemals kennengelernt hatte, war Axel von seiner ganzen Natur her, von seinem Auftreten bis hin zu seiner völligen finanziellen Unabhängigkeit vom Rest der Welt, kein Puzzlestück, das man irgendwie mit in sein Leben integrierte - und zur Not formen konnte, damit es passte. Vielmehr fühlte es sich so an, als wäre er das Puzzle, und sie versuchte, es zu erkennen, um herauszufinden, wie sie am besten da hineinpassen könnte.
Denn auch wenn sie gestern Nacht mürrisch gegangen war, wurde ihr doch immer mehr bewusst, dass sie genau das wollte: in sein Leben passen, allerdings nicht nur als winziges Stück.
Sie war verwirrt.
Vielleicht war auch das ein Grund, warum sie heute hier war und die alten Schriften studierte - um die vielen in ihrem Bauch, ihrem Herzen und zugegebenermaßen auch zwischen ihren Schenkeln wirbelnden und bohrenden Gefühle mehr in Einklang zu bringen mit ihrem ansonsten recht klaren Kopf, ihrem analytischen Verstand und ihren bis zur Grenze des Unbehaglichen misstrauischen Gedanken. Sie wollte ihn besser verstehen, sein Wesen klarer erkennen können. Aber nach mehreren Stunden eingehender Lektüre der vor ihr liegenden Schriften in Sachen Azazel stellte sie missmutig fest: Sie hatte genau das Gegenteil erreicht.
Ihr Kopf warnte sie vor dem, was ihre Seele und ihr Körper so sehr begehrten.
Larry hatte recht: Dem Buch der Wächter zufolge war Azazel noch sehr viel schlimmer als Luzifer. Luzifer hatte die Menschen nur verführt, Azazel hingegen hatte sie verderbt. Luzifer hatte lediglich Zweifel gesät und den Herrschaftsanspruch des Himmels infrage gestellt, Azazel aber hatte die gesamte Menschheit in eine offene Rebellion gegen Gott geführt.
Das Buch der Wächter beschrieb, wie er und einhundertneunundneunzig
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