Schwingen des Vergessens
loslassen, gedanklich und vor allem ihre Gefühle. Im Gesamten ihr ganzes Leben. Normalerweise hatte es ihr immer geholfen, sich ihrem Tagebuch anzuvertrauen, doch bei solchen Situationen schien sogar das aussichtlos. Das kleine Büchlein konnte schließlich nicht zu ihr sprechen und ihr deshalb nicht besser weiterhelfen, als ihre Fische. Bei dem Gedanken warf sie einen Blick auf das Aquarium, schon lange hatte sie die Tiere nicht mehr gefüttert, ihr Gehirn war ganz von anderen Gedanken überfüllt, da blieb kein Platz mehr für so etwas. Fürsorglich kippte sie etwas Fischfutter in den Tank und blickte allen Fischen nacheinander tief in die Augen. Doch kein einziger traute sich zu dem Futter, das sich langsam an der Wasseroberfläche verteilte.
„Kommt her, das ist Futter, nichts Giftiges, ihr habt doch lange nichts mehr gegessen“, murmelte sie und tauchte einen kleinen Kescher ins Wasser. Seelenruhig durchpflügte sie das Wasser und versuchte den Fischen vergeblich weiszumachen, dass sie fressen mussten. Noch immer rührte sich keiner von ihnen. Plötzlich entdeckte sie den Kadaver, der weiter hinten in der Ecke herum schwamm und halb zerfressen wurde. Das Wasser um ihn herum war seltsam rot, höchstwahrscheinlich von seinem eigenen Blut. Doch wer hatte das Tier getötet? Es war der größte Fisch, den sie besaß, keiner der anderen würde sich nur in seine Nähe trauen. Misstrauisch starrte sie die anderen an, es musste Amelies Schuld gewesen sein. Sie hatte vergessen, die Tiere zu füttern, logisch, dass sie sich selbst ernähren mussten. Das Komische daran war allerdings, dass sie sich gerade mit dem Größten angelegt hatten, die Kleinen wären leichter verdaulich und vor allem schneller zu überwältigen gewesen. Grübelnd stolperte sie ums Aquarium herum, doch sonst lebten alle noch. Erst als Amelie ein paar Schritte zurück trat, um alles genauer unter die Lupe zu nehmen, zischte ein kleiner, schwarz-weiß gestreifter Fisch nach oben, schnappte sich ein wenig Futter und verschwand sofort wieder unter den zahlreichen Algen. Verwundert kniete sie sich vor dem dicken Glas hin und beobachtete die anderen. Sie wichen ängstlich zurück. Es blieb kein Zweifel, sie flohen eindeutig vor Amelie.
„Warum habt ihr Angst vor mir? Ich hab euch doch nichts getan“, flüsterte sie ihnen zu und biss auf ihrer Unterlippe herum. Zwar hatte sie noch nie vergessen, ihre Haustiere zu füttern, allerdings hatte sie noch nie davon gehört, dass Fische so abweisend und vor allem ängstlich reagieren konnten. Als würde ein Fluch auf dem Mädchen oder dem gesamten Aquarium lasten. Eine Weile betrachtete sie die Leiche, die über den anderen herum schwamm und wo teilweise nur noch das Skelett zu sehen war. Die Augen waren gerötet und die Rückenflosse halb zerfressen. Es sah furchtbar aus.
„Ich muss ihn rausholen, da drinnen wird er nur zerfressen und dann wird das restliche Wasser auch noch blutig“, überlegte sie und sah sich im Zimmer um. Seufzend erhob sie sich, sie wollte das Wasser auswechseln, vielleicht war es schon zu alt und bekam den Wassertieren nicht mehr gut. Als sie im Bad verschwand, um kübelweise Wasser zu holen, begannen alle blitzschnell zu fressen. Schon als das Mädchen mit dem Kübel zurückkam, war das Futter verschwunden, in den Bäuchen der übrig gebliebenen Tiere. Nachdenklich nahm sie sich den Kescher und blickte im Aquarium herum, wo der tote Fisch geblieben war, doch er war nicht mehr zu sehen. Nirgends, nicht in der Ecke, in der er früher herum getrieben war und auch sonst nirgendwo. Plötzlich begann es unter einem kleinen Baumstamm zu blubbern, verwundert legte sie den Kopf schief und beobachtete die aufsteigenden Blasen genauer. In diesem Moment schoss ein Schemen darunter hervor, blitzschnell, schneller als Amelie überhaupt sehen konnte. Verständnislos starrte sie das Tier an, es war der tote Fisch, doch er lebte.
„Was?“, stotterte sie ungläubig und tippte ein paar Mal gegen die Scheibe. Ganz klar, der Fisch war wieder lebendig, von den Toten auferstanden. Verwirrt blickte sie in die normalen Augen, die vor ein paar Sekunden noch gerötet waren. Warum lebte er wieder? Er war doch tot, zerfressen und blutend. „Was ist mit dir los?“ Ein Gedanke schoss durch ihren Kopf. Eigentlich war es ganz klar, dass es ihr gerade jetzt einfallen würde, doch trotzdem schien es unmöglich. Laut Damian hatte sie gefährliche Fähigkeiten. Eine der Hauptpersonen von Icasan, sie hieß Mira,
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