Schwur des Blutes
Stärke entfaltete. Nur der Wind, deine Muskeln und du. Ich … ich sah, wie Chris das Ziel, die überstehende Kuppe, erreichte. Er pausierte und ich genoss, wie sich seine dunkle Silhouette abzeichnete und sein strahlendes Gesicht, wenn er sich zum Mond drehte. Ich holte die kleine Kamera aus dem Rucksack und fotografierte ihn. Einmalige Bilder.
Dann sah ich auf einmal eine zweite, riesige Gestalt hinter ihm auftauchen. Freude wich Entsetzen. Es gab keinen Kampf, nur ein gewitterähnliches Grollen erfüllte die Luft der Schlucht. Ich erstarrte, beobachtete wie in Trance das Geschehen. Neongelbe Augen schienen Chris angstverzerrtes Antlitz zu beleuchten. Grau-schwarzes Haar, nein Fell, bedeckte den Angreifer. Ich dachte zuerst an einen Timberwolf, aber dafür war er viel zu groß. Größer als Chris. Außerdem stand er aufrecht. Ich zoomte näher und glaub mir, den Anblick werde ich nie vergessen. Ohne dass ich jemals an Außerirdische oder Sagen geglaubt hätte, wusste ich, dass dies ein Werwolf war. Chris’ Schrei hallte gespenstisch zwischen den Berghängen wider. Ich sah, wie der Werwolf Chris … Chris den Hals herumdrehte, als wäre dieser nicht festgewachsen und meinen Bruder dann die Klippe hinunterwarf. Er fiel direkt an mir vorbei. Seine Schuhe trafen mich an Kopf und Schultern, die Kamera fiel, ich verlor den Halt. Ohne Chris’ doppelte Absicherung wäre auch ich gestorben. Sie hielt mich, obwohl ich einige Yards frei stürzte. Als ich wieder hinaufblickte, war der Wolf verschwunden. Ich kletterte unter Schock ins Tal. Ich erinnere mich nicht genau, fand Chris nach langer Suche in der Morgendämmerung; zerschmettert am Fuße des Bergrückens.“
Sam atmete tief durch.
„Etwa eine Woche später erschien der Artikel von Amy: ‚ Werwolf tötet Extremsportler! Schwester Franziska sinnt auf Rache, Vollmondabhängigkeit ein Mythos?’ . Daraufhin verloren wir einen Sponsor nach dem anderen. Nicht nur, weil sie glaubten, ich sei unfähig, den Laden zu führen oder dachten, ich sei verrückt geworden wegen der seltsamen Behauptungen. Ebenso vermuteten einige, ich hätte Chris eigenhändig getötet, um ‚ExtremE’ allein zu besitzen.“ Sie schluchzte herzzerreißend. „Dabei liebe ich ihn doch so sehr.“
Timothy drückte sie fest an sich und sie kuschelte sich ein, verkroch sich an seinem Körper. Er wiegte sie und küsste sanft ihr Haar. Ihre junge Seele fand in seiner den Schutz und Halt, den sie benötigte. Er schloss die Augen und inhalierte ihren wohltuenden Duft. Atmete tief und tiefer ein, spürte, wie die scherbenbespickte Faust, die sein Herz umschloss, sich lockerte, als würde ihr Duft seine Angst zurückdrängen. Zum ersten Mal seit seinem nebulösen Erwachen im Dezember fühlte er, dass es so etwas wie eine Zukunft geben könnte – mit Sam in seinen Armen. Aber erst, als sie vor Erschöpfung endlich einschlief, erlaubte er sich den Gedanken, der ihn erfüllte.
Und ich liebe dich.
21. April 2011
S tunden später lauerten sie vor Georges Haus. Ein Einfamilienhaus am Ende einer Straße, mit einem braunen Bretterzaun und einer Schaukel im Garten. Der Nachtwind säuselte, die Grillen schwiegen erwartungsvoll. Jonas hockte wie ein Schatten auf dem Balkon und beobachtete Ciras Stiefbruder, wie er versuchte, seine größere, quirlige
Tochter zum Einschlafen zu bewegen. Die Kleinere schlief tief und fest mit einem riesigen Teddy im Arm im selben Zimmer und schien die beiden nicht zu hören. George erzählte ihr in betontem Flüsterton eine ausgedachte Geschichte, bis sie gähnte und die Augen schloss. Er deckte sie zu, kippte das Fenster, kontrollierte, ob der Riegel davor lag, und knipste ein Nachtlicht an.
„Träumt süß, meine Sternchen.“ Die Tür zog er bis auf einen Spalt zu und ging nach unten ins Wohnzimmer.
Jonas warf einen letzten Blick auf die schlafenden Kinder, sprang hinab in den düsteren Garten und nahm mental Kontakt zu Nyl auf. „Was konntest du lesen?“
Ny’lanes Antwort kam postwendend. „Seine Frau hasst es, wenn er unter der Bettdecke furzt, wenn er die Füße beim Fernsehen auf den Tisch legt, wenn er besoffen von seiner allmonatlichen Pokerrunde nach Hause kommt und dass er nur richtig hart ist, wenn er sie von hinten nehmen darf.“
„Und das weißt du alles, weil du ne halbe Stunde ihre Gedanken gelesen hast?“
„Hast du schon einmal in den Kopf einer Frau geblickt?“
Jonas huschte zu Nyl, der es sich auf der Schaukel bequem gemacht hatte. „Muss
Weitere Kostenlose Bücher