Schwur des Blutes
hatte sie ihn nur gebracht? Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder, vollends
in seinem Bann gefangen. Sein Gesicht näherte sich ihrem. Oh Gott, ja. Nur ein Kuss. Dafür würde sie jetzt sterben. Seine warmen Finger schoben sich weiter nach hinten, über ihre Schläfen zu ihren Ohren und in ihr Haar. Ebenso zärtlich würden sich seine weichen Lippen auf ihre legen, sie entführen … in eine bessere Welt, in eine andere Zeit. In ihren Augen sammelten sich verfluchte Tränen. Das hatte sie alles nicht gewollt.
„Sam?“
„Ja?“
„Bitte! Lauf weg, wenn ich es dir sage. Sieh nicht zurück. Versprichst du es mir?“
Sein Gesicht war ihrem so nahe. Sein heißer Atem streifte sie. Seine Daumen strichen über ihre erhitzten und feuchten
Wangen. Sein Blick brannte sich in ihren.
„Und ja, ich spüre die Verbindung zwischen uns auch. Sehr …“ Er räusperte sich, fuhr sich über die Spitzen seiner Reiß
zähne und wurde sich offenbar bewusst, dass sie weit hervorstachen. „Äußerst intensiv.“
Ein erotisches Kribbeln floss durch seine Finger in ihren Kopf, überschwemmte ihr Denken und ihre Empfindungen mit
Hitze. So unpassend, jetzt, hier und dennoch so unbeschreiblich, dass sie beinahe vor Wohlgefallen aufkeuchte. Er schenkte ihr mehr als sie gab und plötzlich überfiel sie ein Impuls, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Sie durfte
nicht verzagen, sondern musste ihre Stärken nutzen. „Wo ist mein Rucksack?“ Ihre Stimme gehorchte nicht. Klang gequält,
sonderbar rau. Eine leichte Panik erfüllte sie, doch auch erbarmungslose Entschlossenheit. Timothy stand für einen Wimpernschlag still, vielleicht witterte er, wo sich die Werwölfe befanden, dann huschte er aus ihrem Blickfeld und im nächsten
Augenblick ragte er wieder vor ihr auf, mit dem Rucksack in den Händen. Zum Nachdenken blieb keine Zeit. Sam riss ihn
förmlich auf den Boden, holte eilig alle nötigen Behälter hervor und begann mit dem Mixen. Das Pheromon-Spray, um die
Wölfe anzulocken, konnte sie sich wahrlich sparen. Wer hätte das gedacht? Das hatte ihr am meisten Kopfzerbrechen bereitet. Ein nervöses Kichern verklemmte sich in ihrer Luftröhre, aber sie ließ es nicht frei. Konzentrier dich! Sie spürte Timothys
skeptischen Blick auf sich ruhen. Gern hätte sie ihm erklärt, was sie tat, doch sie schwor sich, es hinterher zu tun … falls es
ein Hinterher gab.
„Fertig“, hauchte sie und sprang mit der Spraydose auf.
„Gut“, sagte Timothy ruhig.
„Wo sind sie?“ Sams Blick wirbelte zu allen Seiten. Sie erkannte in der Dämmerung nur Büsche, dunkle Umrisse. Plötzlich packte Timothy sie bei den Schultern und zog sie dicht an sein Gesicht. Unterdrückte Wut loderte in seinen Augen wie ein Feuerwerk in funkelnden Blautönen. Ihre Füße verloren fast den Bodenkontakt. Ihr Herz setzte vor Schreck kurz
aus.
„Sag endlich, dass du wegrennst, wenn ich es dir sage“, knurrte er leise.
Sam nickte unwillkürlich, fügte rasch ein Ja hinzu.
Timothy stellte sie ab und atmete tief durch. „Es sind sechs.“ Er schob sie mit den Armen hinter seinen gewaltigen Rücken. Sams Kiefer begann zu zittern. Er konnte es nicht mit allen auf einmal aufnehmen. Das waren Giganten. Einige würden sie
verfolgen, sie einholen, sie …
„Du bleibst so nah bei mir wie möglich, bis ich …“
Ohne dass Sam wusste, von wo der Schatten hergekommen war, stürzte sich das massige Etwas auf Timothy. Er musste
sich geduckt haben und rammte seine Linke in die Luft. Sam umklammerte die Dose. Versuchte, immer in Timothys Rückseite zu stehen, aber sie bekam kaum mit, was sich abspielte. Ihr Daumen auf dem Spray zuckte, doch sie wollte ihre einzige
Waffe nicht zu früh einsetzen. Schließlich kamen sie zu sechst und sie hatte erst einen Angreifer erblickt. Genau genommen
nicht einmal das.
Ein Knacken hinter ihr ließ sie herumwirbeln. Sie stolperte an Timothys Rücken. Im selben Moment wurde ihr bewusst,
dass sie damit seine Bewegungsfreiheit einschränkte, aber der Gedanke verblasste im Angesicht des Riesen, der keinen
Sprung entfernt mit seinen Fingerknöcheln knackte. Die neongelben Iris verhöhnten sie, die Pupillen fixierten sie, sein langes,
grau-schwarzes Fell wogte im seichten Wind. Sie hielt das Spray wie eine Pistole vor sich und suchte einen festen Stand mit
den Füßen. „Mörder!“
Timothys Körper türmte sich vor ihr auf, bevor sie ihre Anschuldigung dem Wolf entgegengespuckt hatte. Seine Anspannung ließ ihn gewaltiger erscheinen, als sie
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